Schweden und die Wehrpflicht – ein Vorbild? – Politik | ABC-Z

In der schwedischen Botschaft in Berlin drängen sich die Besucher eng aneinander. Schweden ist Partnerland der diesjährigen Berliner Sicherheitskonferenz und hat zu einem Empfang geladen. Wehrpflicht, Resilienz, Vorbereitung auf den Ernstfall – das skandinavische Land gilt als Vorbild, wenn es um die Verteidigungsfähigkeit geht. Doch was kann und sollte Deutschland tatsächlich von Schweden lernen? Für den schwedischen Verteidigungsminister Pål Jonson ist eines ganz klar: In erster Linie geht es darum, Bewusstsein zu schaffen. Doch wie lässt sich das erreichen?
SZ: Vergangene Woche hat Deutschland ein neues Modell für den Wehrdienst beschlossen. Es wird viel mit dem „schwedischen Modell“ verglichen.
Pål Jonson: Das schwedische Modell funktioniert, weil wir dadurch genug Leute für den Dienst bekommen. Eine stehende Armee ist personalintensiv, durch den Dienst können wir unsere Brigaden voll besetzen. Der Wehrdienst in Schweden ist sehr angesehen, jedes Jahr wollen mehr Leute Dienst leisten, als wir aufnehmen können. Wir haben die Wehrpflicht 2009 zwar ausgesetzt, hatten danach aber Probleme, genügend Leute zu finden. Als wir sie 2017 nach der russischen Annexion der Krim wieder eingeführt haben, hat sich gezeigt: Für Schweden funktioniert sie hervorragend. Außerdem haben wir mehr Frauen in den Streitkräften.
Anders als Schweden setzt Deutschland beim Wehrdienst auf Freiwilligkeit. Sie haben erwähnt, dass sich mehr junge Menschen melden, als Sie brauchen. Wie schafft Schweden es, junge Leute für die Streitkräfte zu begeistern?
Ich glaube, das hat viel mit der Grundhaltung in der Bevölkerung zu tun. Umfragen zeigen: In Schweden gibt es einen starken Willen, das eigene Land zu verteidigen. Im europäischen Vergleich sind wir bei der Rekrutierung daher in einer guten Lage. Wir sind auf Kurs und bekommen unsere Stellen besetzt. Das ist eine Mischung aus gesellschaftlicher Denkweise und einem System, das klare Erwartungen formuliert: Verteidigung ist nicht einfach etwas, was der Staat macht, sondern eine gemeinsame Aufgabe.
Wie gelingt es, den sozialen Zusammenhalt und die Resilienz in der Gesellschaft zu stärken?
Ich glaube, das beginnt mit politischer Führung – und zwar nicht nur durch die Regierung. Alle Parteien im Parlament stehen hinter dem Ziel, die Nato-Investitionsziele bei den Verteidigungsausgaben zu erreichen. Und alle sind dafür, dass wir die Ukraine auf dem aktuellen Niveau weiter militärisch und politisch unterstützen. Wir können uns über vieles streiten – Wirtschaft, Steuern, Sozialpolitik, Unternehmensfragen –, aber bei Sicherheit und Verteidigung streben wir bewusst nach einem überparteilichen Konsens. Das ist wichtig, damit die Streitkräfte eine langfristige Perspektive haben. Man baut nicht alle vier Jahre eine neue Armee, sondern muss in Jahrzehnten denken. Diese politische Geschlossenheit sendet auch ein Signal in die Gesellschaft: Verteidigung und Unterstützung der Ukraine sind kein Parteienprojekt, sondern eine gemeinsame nationale Aufgabe.
Die Menschen nehmen Bedrohungen unterschiedlich wahr. Wie schafft man es auf nationaler Ebene, ein gesamtgesellschaftliches Verständnis der Bedrohung zu erstellen?
In Schweden haben wir dafür die Verteidigungskommission. Dort sind alle Parteien des Parlaments vertreten. Diese Kommission erarbeitet regelmäßig eine gemeinsame Einschätzung der Bedrohungen.
Was könnte Deutschland konkret aus diesem schwedischen Aufholprozess lernen?
Zunächst einmal: Wir schauen selbst mit großem Interesse auf die deutsche Zeitenwende und die deutsche Führungsrolle. Ein starkes Deutschland ist für Europa unverzichtbar. Wir haben nach dem Ende des Kalten Krieges sowohl unser Militär als auch den Zivilschutz drastisch reduziert – und dann gemerkt: Das war zu viel. Jetzt holen wir in kurzer Zeit auf, mit klaren politischen Beschlüssen und stabilen Mehrheiten. In Schweden denken wir militärische Verteidigung und Zivilschutz immer zusammen.
Diese zivil-militärische Zusammenarbeit verschmilzt in Schweden im Konzept der Gesamtverteidigung. Wie sieht das konkret aus?
Als unsere Regierung im Oktober 2022 ihr Amt antrat, haben wir zwei Dinge gemacht: einen eigenen Minister für Zivilschutz eingesetzt und die militärische und zivile Verteidigung in einem Ressort gebündelt – dem Ministerium für Gesamtverteidigung. Ich sitze also Tür an Tür mit meinem Kollegen, der für den Zivilschutz zuständig ist. Wir arbeiten täglich zusammen. Die Grundidee lautet: Wenn Schweden jemals einem bewaffneten Angriff ausgesetzt wäre, wären wir extrem darauf angewiesen, dass die zivile Gesellschaft funktioniert – Energie, Nahrung, Transport, Kommunikation, Geldverkehr, Gesundheitswesen. Jeder zuständige Minister, jede Behörde trägt Mitverantwortung für Resilienz in ihrem Bereich. Verteidigung ist also nicht nur Aufgabe des Verteidigungsministeriums, sondern ein ganzheitliches Regierungsprojekt.
Gab es bei diesem Umbau großen Widerstand in Schweden?
Ehrlich gesagt, nein – zumindest keinen offenen. Es war für alle Beteiligten klar, dass sich die Sicherheitslage dramatisch verändert hat. Nach dem Kalten Krieg hatten wir unseren Zivilschutz fast abgeschafft. Jetzt bauen wir ihn wieder auf – modern, digital und angepasst an heutige Technologien. Natürlich ist der militärische Teil „einfacher“: Da geht es um Budgets, Strukturen, Ausrüstung. Der zivile Teil ist schwieriger, weil er die ganze Gesellschaft betrifft.
Stichwort „Resilienz“. Der Begriff wird gerade inflationär gebraucht. Was verstehen Sie ganz konkret darunter?
Vereinfacht gesagt: Wenn eine Gesellschaft so stark ist, dass sie einen bewaffneten Angriff aushalten kann, dann ist sie automatisch besser vorbereitet auf alle anderen Krisen, wie etwa Waldbrände, Überschwemmungen oder Stromausfälle.
Wenn wir in Deutschland jetzt sagen: Wir wollen wie Schweden in Richtung Gesamtverteidigung gehen, was ist der erste Schritt?
Die Gesellschaft muss verstehen, dass wir in einer neuen Sicherheitslage leben. In Europa läuft ein groß angelegter Krieg mit mehr als einer Million Opfern. Zwischen der Ukraine und Schweden liegen gerade einmal ein paar Hundert Kilometer. Auch Deutschland ist nicht weit weg, weder politisch noch wirtschaftlich.
Sie haben in Schweden auch diese berühmte „gelbe Broschüre“. Was ist das?
Darin steht, was in Krisen und im Krieg zu tun ist, welche Vorräte man zu Hause haben sollte, wie man Informationen bekommt und wo Schutzräume sind. Die haben wir 2017 zum ersten Mal an alle Haushalte geschickt – inzwischen wurde das weiterentwickelt. Parallel dazu arbeiten wir an digitalen Lösungen, Apps und einem speziellen Krisenportal, auf das sich die Bevölkerung im Ernstfall verlassen kann.
Und die Menschen wissen auch, was ihre Rolle im Ernstfall ist?
Wir haben ein System, in dem im Ernstfall einzelne Teile der Gesellschaft jeweils klar definierte Aufgaben haben. Beispielsweise in Streitkräften, Behörden oder kritischer Infrastruktur. Der Rest aber soll genau das tun, was er am Vortag getan hat: zur Arbeit gehen, Zeitung machen, Bus fahren, Pflege leisten, lehren. Ziel ist, so viel Normalität wie möglich zu bewahren. Das ist gesetzlich verpflichtend, nicht freiwillig.
In Deutschland können Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft derzeit nicht zur Bundeswehr. Wie ist das in Schweden – besonders mit Blick auf die Gesamtverteidigung?
In Schweden zu leben, ist nicht wie im Hotel – man kommt nicht einfach, übernachtet und geht wieder. Es gibt Rechte, aber auch Erwartungen und Verpflichtungen. Wer zwischen 16 und 70 ist und dauerhaft in Schweden wohnt, kann verpflichtet werden, die Gesamtverteidigung zu unterstützen – in sehr unterschiedlichen Rollen.





















