“Schule des Südens” von Onur Erdur: Am Meeresufer ein Gesicht | ABC-Z
Überall flirrt gegenwärtig das entzündliche Wort “postkolonial” durch die Luft, da ist dieses buchstäblich postkoloniale Buch über die Erfahrung des Kolonialismus besonders willkommen. Es erzählt mit staunenswerter Leichtigkeit und menschlicher Nähe von einem bisher tatsächlich unerforschten Stoff: von den intellektuellen Auswirkungen des kolonialen Alltags in Nordafrika auf ein paar denkende Europäer, die dessen leibhaftige Zeugen wurden. Der Ideenhistoriker Onur Erdur von der Humboldt-Universität in Berlin, geboren 1984 im südanatolischen Diyarbakır, hat aus den Archiven erstmals ans Tageslicht gefördert, was es für die legendären Intellektuellen Frankreichs und ihre Theorien, ihre Begriffe, ihre politische Identität bedeutete, dass der Kolonialismus ihre Biografien geprägt hat: Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Michel Foucault, Albert Camus, Hélène Cixous, Roland Barthes.
Sie alle dachten und schrieben mit kolonialem Hintergrund. Waren in den Kolonien geboren oder hatten dort in den 1950er- und 1960er-Jahren entscheidende Momente ihres Lebens verbracht. Am Strand von Djerba, in Tunesien, kam der französische Philosoph Michel Foucault auf die legendäre Formulierung, der Mensch verschwinde “wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand”. Der Presse dort berichtet er freimütig, er sei hier wegen des Bildes, das sich Europäer von Tunesien machten: “Sonne, Meer, die große Trockenheit Afrikas.” Von der Herrschaft der Franzosen und den Scherben, die sie hinterließ, spricht er nicht. Der Philosoph Jacques Derrida wiederum, ein Sohn von sephardischen Juden, die schon während der Inquisition nach Algerien eingewandert waren, wird durch eine Filmsequenz von 1999 an einer algerischen Steilküste vergegenwärtigt, in der er überraschend sagt: Alles, was er mache, schreibe, denke, habe “eine gewisse Affinität zur Postkolonialität”. Man kann Derrida, den Pariser Protagonisten des Poststrukturalismus in französischer Sprache, der vielschichtigen und ambivalenten Identität, mit gutem Grund einen Denker Algeriens nennen.
Wie hängen Erfahrung und Theorie zusammen? Onur Erdur ergründet, wie in der Sonne Nordafrikas ein antihegemoniales Denken der Differenz entstand, das er als eine Art “Tugendlehre des Geistes im Angesicht des kolonialen Unrechts” versteht: weil jeder dieser Denker auf seine Weise versuchte, dem Erlebten angesichts des Leids eine politische Haltung und eine Interpretation für die Öffentlichkeit abzugewinnen. Onurs nach Biografien strukturierte Erzählungen machen begreiflich, dass Philosophie eine Herkunft hat. Sie liegt für die französische Theorie in der Fremdheit, die diese Europäer empfanden. Mancher postkolonialen Kritik dieser Tage gelten die französischen Intellektuellen als weiße Eurozentriker, die über Identität nachdachten, ohne die Realität zu durchdringen. Wer aber das Buch von Onur Erdur liest, spürt das befreiende Gefühl, dass die Welt des Denkens widersprüchlicher, reicher, auch trostreicher ist als die anstrengenden Moralisierungen der Gegenwart. Und dies umso mehr, weil die Frage der Schuld am Unrecht so unabweisbar im Raum steht. Die Schule des Südens ist das Buch dieses Sommers.
Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der
französischen Theorie; Matthes&Seitz, Berlin 2024; 335 S., 28,– €,
als E-Book 23,99 €
Überall flirrt gegenwärtig das entzündliche Wort “postkolonial” durch die Luft, da ist dieses buchstäblich postkoloniale Buch über die Erfahrung des Kolonialismus besonders willkommen. Es erzählt mit staunenswerter Leichtigkeit und menschlicher Nähe von einem bisher tatsächlich unerforschten Stoff: von den intellektuellen Auswirkungen des kolonialen Alltags in Nordafrika auf ein paar denkende Europäer, die dessen leibhaftige Zeugen wurden. Der Ideenhistoriker Onur Erdur von der Humboldt-Universität in Berlin, geboren 1984 im südanatolischen Diyarbakır, hat aus den Archiven erstmals ans Tageslicht gefördert, was es für die legendären Intellektuellen Frankreichs und ihre Theorien, ihre Begriffe, ihre politische Identität bedeutete, dass der Kolonialismus ihre Biografien geprägt hat: Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Michel Foucault, Albert Camus, Hélène Cixous, Roland Barthes.