Schulabbrecher-Zahl steigt spürbar – die Bildungsmisere unter Kretschmanns Ägide | ABC-Z
Baden-Württemberg beklagt seit Längerem das absackende Leistungsniveau seiner Schüler, doch ein Gegenlenken will der grün-schwarzen Landesregierung nicht recht gelingen. Die Ergebnisse regelmäßiger Vergleichstests bleiben alarmierend, was Leseverständnis, Sprachkompetenz oder mathematische Grundkenntnisse angeht.
Und eine andere Entwicklung, auf die jetzt eine Datenanalyse des Südwestrundfunks (SWR) aufmerksam macht, gibt fast noch mehr Anlass zur Sorge: Immer mehr Jugendliche verlassen die Schule ganz ohne Abschluss. Zwar ist das ein Trend, der seit 2013 bundesweit zu beobachten ist. Doch ausgerechnet das einstige „Schafferländle“ Baden-Württemberg liegt mittlerweile über Bundesdurchschnitt – ebenso wie das benachbarte Rheinland-Pfalz.
Dabei haben Jugendliche ohne Schulabschluss selbst in Zeiten, in denen Arbeitgeber händeringend nach Azubis suchen, kaum Chancen auf eine Ausbildung, wie der jüngste Berufsbildungsbericht der Bundesregierung belegt. Zwei Drittel der Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die kein Abschlusszeugnis vorweisen können, bleiben demnach für immer ohne Berufsausbildung. Die Gefahr, auf Dauer zum Transferleistungsempfänger zu werden, ist groß.
Für die Schulabbrecher-Quote hat der SWR die Daten des Zensus 2022 ausgewertet, die im Juni veröffentlicht wurden. Durch die Bevölkerungszählung habe zum ersten Mal seit 2011 die wirkliche Lage nachvollzogen werden können, so die Autoren. In Baden-Württemberg stieg demnach die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ihrer Lehranstalt ohne Abschluss den Rücken kehrten, binnen zehn Jahren an. 2012, als der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann noch frisch im Amt war, hatte die Abbrecherquote bei nur 4,3 Prozent gelegen, 2022 waren es dann schon 6,9 Prozent.
Mit Pforzheim hat Baden-Württemberg sogar einen besonderen Brennpunkt: Die Goldschmiedestadt liegt bundesweit auf Rang drei. Mehr junge Menschen, die ihre Schule ohne Zeugnis verlassen, gab es nur in Offenbach und in Duisburg.
Mangelnde Sprachkenntnisse als ein Hauptproblem
Als mögliche Gründe für die Entwicklung identifizierte die Mainzer Schulpädagogik-Professorin Karin Bräu im SWR neben familiären Problemen, Schicksalsschlägen oder Erkrankungen auch die soziale Komponente. Das Bildungskonzept sei an einer „bürgerlichen Mitte“ ausgerichtet und setze darauf, dass es neben Sprachkenntnissen und vielen eingeübten Fertigkeiten auch eine Elternbeteiligung gebe. Zudem würden Kinder aus Migrantenfamilien oder sozial benachteiligten Verhältnissen auch wegen möglicher Vorurteile mancher Pädagogen oft schwächer gefördert.
Klar ist: In Städten mit besonders hohen Abbrecher-Quoten leben besonders viele Ausländer und Migranten. Pforzheim etwa hat unter den 44 Stadt- und Landkreisen von Baden-Württemberg mit 31,2 Prozent den höchsten Ausländeranteil. Auf Rang zwei folgt Heilbronn – was den Ausländeranteil angeht ebenso wie bei der Schulabbrecherquote.
In Rheinland-Pfalz, das seit 2012 von der gerade zurückgetretenen SPD-Politikerin Malu Dreyer regiert worden war, ist die Lage ähnlich. Auch in Dreyers Amtszeit stieg die Quote junger Menschen ohne Abschluss massiv an. Die meisten Abbrecher im Bundesland hatte die Industriestadt Ludwigshafen.
Auch in der BASF-Stadt ist der Anteil von Kindern mit Einwanderungsgeschichte sehr groß, unter den Sechs- bis Neunjährigen liegt er bei 73 Prozent. Für bundesweite Aufmerksamkeit hatte im vergangenen Jahr die Gräfenau-Grundschule im Vielvölker-Stadtteil Hemsbach gesorgt, weil 39 der 126 Erstklässler sitzen geblieben waren. Als Hauptproblem hatte Schulleiterin Barbara Mächtle die mangelnden Sprachkenntnisse benannt. Wie sich am Beispiel der Gräfenauschule plakativ zeigt, lassen sich die massiven Defizite aber nur sehr schwer beheben, und schon gar nicht von heute auf morgen.
Das Mainzer Bildungsministerium hatte der Schule zu Beginn des Schuljahres 2023/24 für sechs Wochen einige Lehramts-Studenten der Universität Kaiserslautern-Landau geschickt. Diese unterstützten die Lehrer bei der individuellen Förderung der Kinder und mussten feststellen, dass selbst einfachste Fertigkeiten wie das Stiftehalten oder der Umgang mit einer Schere vielen fremd waren.
Nach dem Blitz-Einsatz war die Schule dann wieder auf sich allein gestellt und wurde der Lage nicht Herr. Das Ergebnis: In diesem Jahr gab es sogar noch mehr Kinder als 2023, denen eine Wiederholung der ersten Klasse nahegelegt wurde.
Der Frankfurter Soziologie-Professor Kai Maaz, Studienautor des Nationalen Bildungsberichts, bestätigt, dass der Anteil junger Menschen ohne deutschen Pass, die ohne Abschluss bleiben, weiter steigt. Die deutsche Politik habe verkannt, welche Herausforderung es sei, so viele Kinder dauerhaft ins System einzugliedern. „Zuwanderung ist nicht nur eine Chance, das darf nicht schöngeredet werden“, sagte Maaz der „Zeit“.
Wie viele Bildungsexperten mahnt Maaz an, dass noch lange vor der Einschulung angesetzt werden müsste, weil sich dann die Defizite beim Wortschatz oder Zahlenverständnis schon manifestiert hätten. Wie das aussehen könnte, zeigt das Beispiel Hessen.
Dort wurden schon vor 20 Jahren Vorlaufkurse geschaffen, in denen Kinder mit Deutschdefiziten im Jahr vor der Einschulung auf den Unterricht vorbereitet werden sollen. Seit 2020 sind diese Kurse auch verpflichtend, nachdem hessenweit mittlerweile 43 Prozent der Grundschulkinder einen Migrationshintergrund haben, in städtischen Ballungszentren sogar noch deutlich mehr.
Dass die Schulabbrecher-Quote im Land nur bei 5,4 Prozent liegt, dem zweitbesten Wert hinter Bayern, sieht das Wiesbadener Kultusministerium als Erfolg. Allerdings greifen die Maßnahmen offenkundig nicht überall, wie das Negativ-Beispiel Offenbach zeigt.
Mittlerweile hat aber auch Baden-Württemberg erkannt, dass an einer verpflichtenden Sprachprüfung und -förderung kein Weg vorbeiführt. In dieser Woche wurde für die Grundschulen im Land ein umfangreiches Sprachförderprogramm beschlossen, jetzt geht das Gesetz in die Anhörung.
Erste Maßnahmen sollen bereits im kommenden Schuljahr starten – mit vier Stunden pro Woche Sprachunterricht in kleinen Gruppen. Die grüne Kultusministerin Theresa Schopper sieht großen Handlungsbedarf: „Die Kinder, die am Anfang nicht im Zug sitzen, sondern nur die Rücklichter des Zuges sehen, haben auch später nicht die Türe offen.“