Schlafwandeln: Wie Träume nun doch damit zusammenhängen |ABC-Z
Viele Menschen benehmen sich nachts im halbwachen Zustand seltsam und können sich später nicht erinnern. Schlafwandeln betrifft besonders Kinder. Bisher dachten Forscher, Träume spielten bei diesen Episoden keine Rolle. Dies ändert sich nun.
Einer der ältesten Fälle von Schlafwandeln, den ein Arzt dokumentiert hat, endete höchst dramatisch: Ein 28-jähriger Mann sah im Traum ein weißes Monster, das seinen 18 Monate alten Sohn attackierte. Tatsächlich schlief der Junge friedlich neben ihm im Bett – zwischen dem Mann und dessen Ehefrau. Im Traum aber packte der Mann das böse Monster und schmettert es gegen die Wand. Da schrie die Ehefrau laut auf. Der Mann erwachte. Zu seinem großen Entsetzen hatte er sein Kind schwer verletzt.
Diese Familientragödie hielt ein schottischer Arzt 1878 fest. Er sprach von einem „Wahn im Schlaf“, einer „Somnomanie“. Durchgesetzt hat sich stattdessen der harmlosere Begriff des „Schlafwandelns“. Zahlreiche Klischees sind im Umlauf: Menschen laufen nachts mit leerem Blick durch Zimmer und über Gänge, ihre Bewegungen sind weniger flüssig, die Personen lassen sich nicht normal ansprechen. Später im Wachzustand fehlt ihnen jegliche Erinnerung daran.
Forscher analysieren nun mit neuen Daten, was genau im Gehirn bei den nächtlichen Episoden geschieht – und wie Träume hineinspielen.
Unter kontrollierten Bedingungen machen die Betroffenen oft nichts Gefährliches. „Die meisten setzen sich lediglich im Bett auf. Oder sie sprechen im Schlaf“, sagt die Neurowissenschaftlerin Francesca Siclari, die am Netherlands Institute for Neuroscience in Amsterdam schlafwandelnde Menschen untersucht. Das Tun der Halbwachen dauert meist nur ein paar Sekunden oder Minuten, sehr selten länger. „Dass sie das Bett verlassen, ist im Schlaflabor äußerst selten“, sagt Siclari.
Es sind Einzelfälle, wenn Männer oder Frauen gar ins Auto steigen und um den Block fahren. Besonders rar sind nachtwandelnde Menschen, die anderen Gewalt antun und sich später vor Gericht der Frage der Schuldfähigkeit stellen müssen.
In den Medien wird Schlafwandeln entweder als faszinierendes Phänomen oder als skurril und belustigend dargestellt, berichtet Nico Wettmann, Soziologe an der Universität Koblenz. Er erforscht, wie Nachtwandler sich selbst per Tracking überwachen und wie das Schlafwandeln in sozialen Medien aufgenommen wird. „Oft überwiegt aber der gruselige Zombie-Charakter, weshalb es ja auch viele Horrorfilme mit gespielten Nachtwandelszenen gibt“, sagt er.
Seit den 60er-Jahren galt die wissenschaftliche Erklärung, dass Somnambulismus aus einer Tiefschlafphase heraus auftritt, wenn die Person nur teilweise erwacht. Bestimmte Areale des Gehirns sind dann aktiv, etwa jene, die für Bewegung zuständig sind. Andere Teile verbleiben im Schlafzustand. Träumen würden die Betreffenden nicht, hieß es lange. Vielmehr entstehe Schlafwandeln aus dem non-REM-Schlaf heraus, der traumlosen Nachtruhe.
Diese Thesen sind mittlerweile widerlegt. Francesca Siclari konnte in ihren Untersuchungen zeigen, dass die Annahme von Traumlosigkeit nicht stimmt. Sie beschäftigt sich wie keine andere Forscherin in Europa derzeit damit, was bei den nächtlichen Aktionen der Halbwachen im Kopf passiert. Sie und ihr Team untersuchten 22 nachtwandelnde Frauen und Männer für drei Nächte im Schlaflabor.
In der ersten Nacht wurden 256 Elektroden auf der Kopfhaut platziert, um die Hirnströme möglichst genau zu kartieren. In der zweiten Nacht mussten die Probanden wach bleiben. Denn Schlafmangel und im Übrigen auch Lärm triggern die nächtlichen Episoden.
Zwei Drittel der Menschen träumten
In der dritten Nacht hofften die Forscher auf das besondere Vorkommnis, während die Teilnehmer erneut mit EEG-Elektroden versehen waren. Siclaris Kolleginnen machten sogar Lärm, um den Halbwachzustand gezielt auszulösen. Sobald eine Person schlafwandelte, weckten sie diese anschließend und besprachen, was sie erlebt hatte.
Im Ergebnis zeigte sich, dass zwei Drittel der Menschen während ihrer somnambulen Phase tatsächlich träumten und sich auch bewusst daran erinnerten. „Es ist kein automatisiertes Verhalten ohne jegliches Bewusstsein, wie manchmal behauptet. Und vor allem ist es nicht traumlos, sondern meist sogar mit Träumen verknüpft“, sagt Siclari.
Anhand der Interviews fand die Neurowissenschaftlerin heraus, dass die Handlungen sogar oft zum Trauminhalt passten, allerdings nicht immer. „Ein Mann beschrieb, er habe sein Baby gesucht und nirgends gefunden. Wir sahen, dass er aufstand, sich umblickte und unter das Bett schaute.“
Die Hirnaktivitätsmuster entsprachen denen, die jeweils beim Träumen auftreten. Und auch sonst protokollierten die Forscher die typischen Phänomene, die Träume charakterisieren: Menschen haben beim Aufwachen manchmal das Gefühl, alles sei echt gewesen. Sie wachen mit einer falschen Vorstellung auf und brauchen einige Zeit, um wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Im Traum wie in den Nachtwandelepisoden selbst ereignen sich Halluzinationen, etwa dass der Ehemann zum Monster wird.
Schlafwandeln sei ein gutes Modell, um Träume zu verstehen, davon ist Siclari überzeugt. „Denn die Person ist bei teilweisem Bewusstsein und interagiert mit ihrer Umwelt“. Im nächsten Schritt möchte sie deshalb den Nachtwandlern Bilder von Objekten zeigen und erfassen, wie diese reagieren und was sie im halbwachen Zustand wahrnehmen. „Wir wollen wissen, wo der Filter im Gehirn ist“, sagt sie.
Besonders häufig schlafwandeln Kinder im Alter von vier bis acht Jahren. Etwa ein Drittel der Heranwachsenden soll schon einmal nachts aktiv geworden sein. So machte sich auch die Autorin dieses Textes mit sechs Jahren aus dem Bett auf, ging die Wendeltreppe zu ihren Eltern hinunter und beklagte, ihr Bruder sei so laut. Am nächsten Morgen erinnerte sie sich an nichts. Nur ihre Eltern waren von da an besorgt. Doch es war das erste und letzte Nachtwandeln.
Verletzungen vom Schlafwandeln
Es könne gruselig sein, eine nachtwandelnde Person zu erleben, weil man sich dann frage, wer diese Person ist, weiß Siclari. „Und wenn man es selbst auf einem Video zu sehen bekommt, ist man geschockt und fragt sich: Wer bin ich, dass ich so etwas tue“, sagt sie. Viele fürchten dann den berüchtigten Sturz aus dem Fenster.
Tatsächlich ist es mit der sprichwörtlichen schlafwandlerischen Sicherheit nicht weit her. Notfallmediziner Thomas Sauter vom Inselspital in Bern hat 620.000 elektronische Akten mit Notfallzuweisungen durchforstet. Insgesamt elf Patienten hatten sich beim Schlafwandeln verletzt. Alle waren gestürzt, beispielsweise über einen Gegenstand in der Wohnung gestolpert. Manche hatten Prellungen am Rücken, andere mehrfache Brüche der Gesichtsknochen. Keiner der elf Menschen war gestorben, aber vier hatten sich länger im Krankenhaus behandeln lassen müssen, erzählt Sauter.
Es sind dabei nicht die Männer, die sich im halbwachen Zustand erhöhtem Risiko aussetzen und etwa aufs Dach klettern. Frauen neigen eher zu riskanten Tätigkeiten. Das belegt eine jüngst publizierte ungarische Studie. 224 YouTube-Videos von schlafwandelnden Kindern und Erwachsenen wurden ausgewertet, die Frauen nutzten häufiger zum Beispiel Küchengeräte und damit den Strom. Um schlimmere Unfälle zu vermeiden, empfehlen Schlafmediziner die Balkontüren und Fenstern sicher zu verschließen sowie herumliegende Gegenstände wegzuräumen.
Die Betroffenen haben oft schaurige Träume, die Angst auslösen, erzählt Siclari. Probanden berichteten, dass sich die Wände auf sie zubewegt haben und sie zu zerquetschen drohten oder die Decke auf sie herabstürzte. „Nicht selten sind auch Insekten im Bett“, sagt Siclari. „Es ist interessant, dass die Trauminhalte doch ähnlich sind. Ich gehe davon aus, dass etwas Ähnliches im Gehirn passiert und es ähnlich interpretiert wird.“
Aus dem inneren Horrorvideo ergibt sich wohl auch, dass die Nachtwandler hin und wieder aus dem Bett steigen, quasi der Gefahr aus dem Weg gehen wollen oder reagieren. Nico Wettmann aus Koblenz kennt eine Frau, die in Hotels nachts auf den Fluren herumgeistert. „Mir würde das zu weit gehen. Ich hätte Angst um mich selbst. Aber die Frau nahm es längst als normal hin.“
Viele der Tätigkeiten, die Nachtwandler ausführen, sind für sie tagsüber ganz normal. Der Soziologe nennt Beispiele: „Einige rauchen eine Zigarette. Ein Koch kochte nachts.“ Auch Francesca Siclari kennt das: Eine Frau hängte alle Bilder im Schlafzimmer ab, nachdem sie tagelang Äpfel gepflückt hatte.
Allerdings ist es gar nicht einfach, Schlafwandeln als solches zu erkennen. Gerichte tun sich damit manchmal schwer. Als ein Ex-Staatsanwalt behauptete er habe seinen Sohn im somnambulen Zustand vergewaltigt, reichte das dem Gericht am Ende der Verhandlungen nicht. Die Beweise für seine Nachtwandelei fehlten. Es verurteilte den Mann.
Selbst für Schlafmediziner reicht ein Video allein nicht aus, sagt Wettmann. Sie würden sich oft im Team beraten und vor allem die Eindrücke des Menschen erfragen, um zu einem schlüssigen Bild zu gelangen. Die sichtbaren Hinweise – der Blick, die Bewegung – sind das eine. Bisher galt es auch als zentral, dass der jeweilige Mensch nicht geträumt hatte. Siclaris Forschung stellt dieses Diagnosekriterium nun infrage: „Träumen ist der Normalfall, nicht die Ausnahme.“