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Scheidender Skisprung-Bundestrainer Stefan Horngacher: Zur Not hilft er auch beim Nähen – Sport | ABC-Z

Eine Hotelbar im Zentrum von Engelberg, es ist das Wochenende des Weltcups vor Weihnachten, traditionell die Generalprobe vor dem Auftaktspringen der Vierschanzentournee in Oberstdorf. Doch statt wie üblich die Sprünge seiner besten Springer der vergangenen Jahre zu analysieren, Karl Geiger und Andreas Wellinger, geht es darum, dass Horngacher dem Vorzeigeduo wegen einer Formkrise eine wochenlange Weltcuppause verordnet hat. Die Kommunikation zwischen ihm und den Arrivierten sei zuletzt schwierig gewesen, in Gesprächen sei er kaum noch an sie herangekommen.

Stattdessen springen nun die Spätzünder Felix Hoffmann und Philipp Raimund in die internationale Spitze. In Engelberg wird Hoffmann einmal Zweiter und einmal Dritter, Raimund zweimal Vierter. Und Horngacher scheint eine fast schelmische Freude daran zu haben, sie zu begleiten. „Der Felix ist ein ruhiger, introvertierter Typ. Der sagt nicht viel. Da brauchst du eine Lupe, dass du in den reinschauen kannst“, sagt er. In der Medienrunde an der Hotelbar ist auch Raimund dabei, eher der extrovertierte Typ. „Ich sage jetzt nicht, wenn ich die Tournee gewinne, werde ich damit der nächste Papst“, sagt Raimund und lacht.

Horngacher schaut zu ihm hinüber, hebt eine Augenbraue, runzelt die Stirn. Wie ein Vater, der seinen Sohn ein wenig erden möchte. Das charakterisiert ihn ganz gut, diesen herzlich-harten, detailversessenen, manchmal grimmig wirkenden Arbeiter aus Bad Häring in Tirol, der mit seinem Abschied gerne noch ein paar Spuren im Schnee hinterlassen würde.

Horngacher (rechts) schaut beim Weltcup in Wisla Anfang Dezember kritisch. Seine beiden Besten, Karl Geiger und Andreas Wellinger, befinden sich da längst im Formtief. (Foto: Kai Taller/Newspix/Imago)

Horngacher war selbst ein herausragender Skispringer. In den 1970er-Jahren baute er als Junge kleine Schneeschanzen, um Idolen wie Toni Innauer nachzueifern. Bis er in Wörgl im Verein und am Schigymnasium Stams, Österreichs Kaderschmiede, ausgebildet wurde. Mit Österreich wurde Horngacher im Team Weltmeister 1991 und 2001 sowie Olympiadritter 1994 und 1998. Für die ganz großen Einzelerfolge hat es nicht gereicht, auch weil er jahrelang unter einer wiederkehrenden Virusinfektion litt. Aber er war schon damals mit seinem Sachverstand eine Leitfigur im ÖSV-Team.

2006 wechselte Horngacher nach Trainer-Lehrjahren in seiner Heimat zum Deutschen Skiverband (DSV) an den Stützpunkt in Hinterzarten, er wurde Heimtrainer von Martin Schmitt, zwischen 2011 und 2016 dann Assistent des damaligen Bundestrainers Werner Schuster; sie feierten als Mannschaft den Olympiasieg 2014 in Sotschi. Als er 2017 Cheftrainer der polnischen Springer wurde, begann seine erfolgreichste Zeit, geprägt von den WM-Titeln mit dem Team 2017 und 2019, dem Einzel-Olympiasieg von Kamil Stoch 2018 in Pyeongchang, dessen Gesamtsiegen bei der Vierschanzentournee 2017 und 2018 sowie seinem Triumph im Gesamtweltcup 2018.

Im Frühjahr 2019 kehrte Horngacher zum DSV zurück – und zu seiner Familie nach Titisee-Neustadt. Nun war er Chef-Bundestrainer, doch die größten Erfolge wie in Polen blieben ihm versagt, abgesehen von Karl Geigers Sieg bei der Skiflug-WM 2020.

Er kämpft also gerade auch um sein Vermächtnis, obwohl er selbst noch nicht Bilanz ziehen möchte. „Ich habe so viele andere Dinge zu tun, als mir zu überlegen: Ja, wie war denn das jetzt? Jetzt bin ich das letzte Mal da und dort. Das denke ich gar nicht. Das ist mir völlig wurscht.“ Bilanziert werde in Planica, nach dem letzten Skiflug-Wettkampf Ende März. „Da ist dann der Abschluss von dem Ganzen.“

Aktuell beschäftigt Horngacher nur eines: „Wo will ich hin mit dem Team?“ Mit einem Team wohlgemerkt, dessen Leitfiguren Geiger und Wellinger völlig außer Form sind.

Der Trainer weiß, dass er liefern muss, die Vierschanzentournee, die Skiflug-WM in Oberstdorf, Olympia: Sein letzter Cheftrainerwinter für den DSV steht in den kommenden zwei Monaten im Schaufenster der Öffentlichkeit, und vielleicht ist es sein schwierigster. So viel sagt Horngacher dann schon: „Man möchte den Laden anständig hinterlassen. Das ist immer das Wichtigste.“

Der Laden, das sind natürlich nicht nur die Athleten, sondern das ganze Team, die Assistenten, Nachwuchstrainer, Techniker, Näherinnen. „Ich habe eine schwierige Aufgabe gehabt“, sagt Horngacher: „Ich habe vom Werner eine intakte Mannschaft übernommen. Die musst du erst mal intakt halten.“ Er findet, dass die Mannschaft nach wie vor ziemlich intakt ist.

Einer seiner engsten Weggefährten hat zwei Tage vor Heiligabend kurz Zeit am Telefon. Einer, der am Anfang Horngachers Konkurrent auf der Schanze war und dann zu seinem Schüler wurde. Martin Schmitt, der Weltmeister und Olympiasieger, schwärmt im Gespräch von Horngachers „klaren Ansichten, seinem analytischen Verständnis, seiner großen Technik- und Materialaffinität“.  Wieso spüre ich den Ski über dem Vorbau nicht? Wie kann man die Krümmung der Latten verändern, damit sie besser in der Luft liegen? Solche Fragen beschäftigen Horngacher. Und wenn ein Anzug nicht passte, dann bastelte er halt selbst einen neuen zusammen.

Schmitt, dem heutigen DSV-Nachwuchstrainer und Eurosport-Experten, fällt dazu eine Anekdote ein: „2007 durfte ich im Continental-Cup in Garmisch kurz vor der Vierschanzentournee springen. Der Anzug passte aber nicht recht. Also haben sich Heinz Kuttin und Stefan nachts ans Nähen gemacht, morgens hing der neue Anzug da.“ Schmitt gewann den Wettbewerb.

Und abseits der Vermessung, der Analyse, der Lehre: Was ist Horngacher für ein Mensch? „Sicher nicht der softeste im Umgang, aber knüppelhart wäre jetzt auch übertrieben“, sagt Schmitt: „Er ist auch mit Gefühl dabei, hat immer ein offenes Ohr. Und er kann auch sehr lustig sein.“ Gesegnet mit einem feinen, trockenen Humor.

Horngacher im Dezember 2001 beim Weltcup auf der  Hochfirstschanze in Titisee-Neustadt. Damals ahnte er noch nicht, dass dieser Ort einmal zu seinem Lebensmittelpunkt werden würde.
Horngacher im Dezember 2001 beim Weltcup auf der  Hochfirstschanze in Titisee-Neustadt. Damals ahnte er noch nicht, dass dieser Ort einmal zu seinem Lebensmittelpunkt werden würde. (Foto: Imago)

Horngacher verschränkt in der Bar in Engelberg jetzt die Hände auf dem Schoß, die linke ist oft in Bewegung, der Daumen reibt über den Zeigefinger. Kleine Zeichen der Anspannung. Das Spiel mit den Medien war nie seine allerliebste Beschäftigung, es gehört nun mal zum Job dazu.

Auch deshalb hat er schon Ende Oktober bei der DSV-Einkleidung in Nürnberg reinen Tisch gemacht, noch bevor die erste Frage gestellt werden konnte. Horngacher betonte, er wolle das gleich zu Beginn der Saison so kommunizieren, „damit Klarheit herrscht, das ist auch für die Sportler leichter. Und für mich schließt sich der Kreis mit den Olympischen Spielen. Ich habe meine erste Saison in Predazzo begonnen, als Springer bei der Weltmeisterschaft 1991“.

Was Horngacher nicht sagte: Wie es damals lief auf der Schanze, die im Februar die Olympia-Austragungsstätte sein wird. Teamgold gewann er mit Ernst Vettori, Andreas Felder und Heinz Kuttin für Österreich. Es ist also ein sehr großer Kreis, der sich da schließt.

Horngacher spürt, dass es Zeit wird zu gehen, denn er findet selbst, dass sein Einfluss schwindet. „Wenn man immer da ist, und das sieben Jahre lang macht mit den ganzen Sportlern: Da ist die Autorität ein bisschen eingeschränkt.“ Schon vor zwei Jahren habe er die Entscheidung gefällt, nach Olympia aufzuhören und den Weg freizumachen für einen, der frischen Aufwind bringen soll.

Horngacher hat Ideen, wie es weitergehen könnte für ihn selbst, aber die behält er für sich. Es werde Gespräche geben in die eine oder andere Richtung, aber momentan sei alles „undiskutiert“. Der Vater von drei Kindern – einen Sohn hat er aus früherer Ehe – weiß nur eines: dass er am 1. April zu Hause in Titisee-Neustadt, nicht weit von der Hochfirstschanze entfernt, bei seiner Familie sein wird. Bei seiner Frau Nicole, die einst die Physiotherapeutin von Schmitt war, Sohn Amadeus, 18, einem Nachwuchs-Skispringer, und Tochter Dana, 20, einer Nachwuchs-Biathletin.

Es wird ein Ankommen nach dem Abschied. An einem Ort im Südschwarzwald, an dem Horngacher tiefe Wurzeln geschlagen hat. Er möchte dort bleiben, erzählen Weggefährten, bis er alt ist.

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