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Schauspielerin Corinna Harfouch wird 70 | ABC-Z

Ihren sechzigsten Geburtstag hat sie im Kino begangen, ihren fünfzigsten auch. In Jan-Ole Gersters „Lara“ von 2019 ist sie die Frau, die am Morgen, an dem sie sechzig wird, vor dem geöffneten Fenster steht und überlegt, ob sie runterspringen soll, die dann aber kehrtmacht und die offenen Rechnungen ihres Lebens begleicht. Mit ihren Kolleginnen in der Stadtverwaltung, die sie jahrzehntelang gequält hat, mit ihrem Klavierprofessor, der sie gequält hat, bis sie ihre Ausbildung zur Konzertpianistin abbrach und in die Verwaltung ging, und mit ihrem Sohn, den sie immer noch quält, ohne zu merken, dass er ein genialer Pianist geworden ist. Und in Christoph Schaubs Film „Giulias Verschwinden“ von 2009 wird sie fünfzig und will es nicht sein, schwänzt ihr Geburtstagsessen, zieht durch die Stadt, kauft ein und lernt Bruno Ganz kennen, einen berufsmüden Manager, der zu ihrem neuen Lebensmenschen wird.

Als DDR-Agentin glänzt sie auch

Zwei Frauen in der Krise, an einer Wendemarke, vor einem Abgrund. Zwei Einsame. Niemand im deutschen Film spielt solche Figuren besser als sie. Man könnte meinen, sie hätte sich festgelegt. Aber dann verkörpert sie in der Amazon-Serie „Deutschland 89“ eine DDR-Agentin, der selbst ein James Bond nicht standhalten könnte, und im Theater den Orlando der Virginia Woolf und Shakespeares Lear als Königin im Ganzkörperanzug. Und im Fernsehen gibt sie eine „Tatort“-Kommissarin, die über ein Mordopfer sagt: „Ich hätte ihn auch umgebracht.“ Sie ist nicht einer, sondern viele Typen, eine Galerie von Verwandlungen, und in jeder ist sie einzigartig, eine Klasse für sich.

Am Wendepunkt: Corinna Harfouch in „Giulias Verschwinden“, 2009Picture Alliance

Vielleicht kann man das Phänomen Corinna Harfouch am besten erklären, indem man zu ihren Anfängen zurückgeht. 1978, mit vierundzwanzig, bewirbt sie sich zum zweiten Mal an der Schauspielschule und wird, anders als beim ersten Mal, genommen. Sie ist ausgebildete Krankenschwester, sie studiert Textilingenieurwesen, sie hat ei­nen Mann und ein Kind, und sie gibt alles auf. Nur den Namen ihres Ehemanns, Harfouch, behält Corinna Meffert, geboren in Suhl, aufgewachsen in Großenhain, Tochter eines Lehrerehepaars, als sie ihre Karriere beginnt.

Sie fängt gleich ganz oben an. Noch als Schauspielschülerin ist sie Shakespeares Julia, dann geht sie ans Berliner Ensemble, spielt Gretchen und Cressida, und längst ist auch die DEFA auf sie aufmerksam geworden und gibt ihr ei­ne Rolle in einem Episodenfilm. Corinna Harfouch aber überschreitet ei­ne weitere Grenze: die von der DDR zur Bundesrepublik. In Hark Bohms Krimikomödie „Der kleine Staatsanwalt“ spielt sie, als Frau Meffert (!), eine Haupt-, in Bohms „Yasemin“ eine Nebenrolle, und von da an ist sie in ihrer Heimat ein Star.

Die erste große Rolle: „Treffen in Travers“, 1989
Die erste große Rolle: „Treffen in Travers“, 1989Klaus Goldmann/DEFA-Stiftung

1988 glänzt sie in einem Kostümdrama über die Nazizeit, ein Jahr später steht sie unter der Regie ihres zweiten Mannes Michael Gwisdek vor der Kamera. „Treffen in Travers“, eine Dreiecksgeschichte aus den Jahren der Französischen Revolution, ist ihr erster großer Film. In Cannes läuft er im offiziellen Programm, und Harfouch, die zum ersten Mal auf dem Festival ist, geht über die Croisette, als wäre sie schon immer hier gewesen. Sie ist angekommen.

Es gibt Schauspielerinnen, die um die Kamera werben, und solche, die sich umwerben lassen. Corinna Harfouch gehört zur zweiten Kategorie. Sie ist so sehr bei sich, dass man sich anstrengen muss, in ih­ren Figuren das Gemachte zu erkennen, die Kunst. So zieht sie einen restlos in ih­ren Bann.

Abschiede einer Greisin: „Sterben“ von Matthias Glasner, 2024
Abschiede einer Greisin: „Sterben“ von Matthias Glasner, 2024Jakub Bejnarowicz

In Matthias Glasners „Sterben“, dem Film, für den sie in diesem Jahr den Deutschen Filmpreis gewonnen hat, ist sie eine Greisin, die es nicht mehr zur Toilette geschafft hat. Dann klingelt das Telefon. Sie sitzt in ihrem eigenen Unrat und spricht mit ih­rem Sohn in Berlin, und während sie ihm vormacht, dass alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen machen solle, spürt man, wie sie selbst an diese Lüge zu glauben versucht, weil sie das Einzige ist, was sie vor dem Zusammenbruch bewahrt.

Später, in einer Szene, die in die deutsche Kinogeschichte eingehen wird, sitzt sie mit dem Sohn bei Kaffee und Kuchen. Sie habe ihn nie geliebt, schon als Baby nicht, sagt sie, und am liebsten hätte sie ihn einfach zurückgelassen bei ihrem Mann und ein ganz neues Leben angefangen. Jetzt wisse er endlich, antwortet Lars Eidinger, der Sohn, woher seine Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen komme.

Die kalten Augen: als Magda Goebbels in „Der Untergang“, 2004
Die kalten Augen: als Magda Goebbels in „Der Untergang“, 2004Picture Alliance

Zwischen „Sterben“ und „Treffen in Travers“ liegen dreieinhalb Jahrzehnte deutsches Kino – Komödien, Familiendramen, Fernsehkrimis, Literaturverfilmungen, ei­n Hexenpart in „Bibi Blocksberg“, eine Femme fatale neben Götz George, ein blondes Gift in „Vera Brühne“. Was fehlt, ist das, was die Reise nach Cannes damals versprach: das Staunen der Welt. Das sagt viel über den deutschen Film, aber es sagt auch einiges über die Schauspielerin Harfouch, die den Sprung nach New York oder Hollywood gescheut hat. Sie blieb, auch hier, bei sich: beim Theater, bei Castorf und Gosch, beim Safe Space des Fernsehens und bei Filmregisseuren wie Glasner, mit dem sie seit vielen Jahren zusammenarbeitet.

Am Set brach sie weinend zusammen

Man kann über Corinna Harfouch nicht sprechen, ohne über ihre Stimme zu reden. Indem man sie erwähnt, hat man sie auch schon im Ohr: Porzellan und Samt über einem Kern aus Stahl. Es ist diese Stimme, mit der sie als Magda Goebbels in „Der Untergang“ ihren sechs Kindern im Führerbunker das tödliche Gift verabreicht. Als die älteste Tochter sich weigert, die Kapsel zu schlucken, hört man nur noch den Stahl, und die Augen in Harfouchs Gesicht werden zu Eisblöcken. In einem Interview hat sie erzählt, wie sie am Set in ihrer Garderobe weinend zusammenbrach und dann die Szene so spielte, wie man sie heute sieht. Vielleicht ist es diese Ökonomie, die die wirklich großen Schauspielerinnen auszeichnet, die Fähigkeit, die eigenen Tränen fließen zu lassen, um anschließend ganz kalt zu sein.

Sie habe gemerkt, dass sie passive Rollen nicht spielen könne, hat Corinna Harfouch bei anderer Gelegenheit gesagt: „Ich bin Täterin.“ Man wünschte sich, dass es im deutschen Film mehr Rollen gäbe, in denen sie diese Selbsterkenntnis ausleben könnte, wilde, böse, gefährliche Frauen, Mörderinnen und Liebende, Frauen wie bei den Klassikern des Theaters – und heute, an ih­rem siebzigsten Geburtstag, wünschte man es sich mehr denn je. Denn Corinna Harfouch ist nicht nur die größte Stimme ihrer Schauspielerinnengeneration. Sie ist auch eine Künstlerin, die noch längst nicht alles gezeigt hat, was sie kann. Noch lange nicht.

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