Schauspiel Dortmund: Urlaub für die Zeitpolizei | ABC-Z

Scharfe Reißzähne ragen aus dem Maul dieses Königstigers, der überdimensional auf der Bühne thront, verziert mit glitzernden Lianenvorhängen. Wohl für den Glamourfaktor dieses Showgenres: It’s Quiztime. Und so treten die Beteiligten aus dem Raubtierrachen heraus und versammeln sich um einen Buzzer zu einer postkolonialen Neuinszenierung eines TV-Formats, in dem das Wissen über die Geschichte fragmentarisch und eurozentrisch durchgespielt werde. Eine der Fragen: Wie viele Inder:innen starben während der britischen Kolonialherrschaft? Die Antwort: hundert Millionen Menschen.
Niemand verlässt diese dreistündige Inszenierung, ohne über die genozidale Kolonialgewalt dazugelernt zu haben. Regisseur Kieran Joel, der bereits in Düsseldorf „Identitti“ für die Bühne adaptierte, hat sich im Schauspiel Dortmund nun auch an Mithu Sanyals über 500 Seiten schweren zweiten Schmöker gewagt, einen „antikolonial-zeitreisenden Detektivroman“, so der Untertitel von „Antichristie“.
Darin erzählt Sanyal auf zwei Ebenen vom indischen Unabhängigkeitskampf. Ihre Protagonistin, gespielt von Maya Alban-Zapata, wirkt als Drehbuchautorin in einem Londoner Writer’s Room an einer antirassistischen Verfilmung eines Agatha-Christie-Krimis mit. Während draußen das britische Volk um die verstorbene Queen trauert, ringt Durga mit dem Tod ihrer Mutter Lila, eine linke Vollzeitaktivistin, die im Stück als Geist zurückkehrt.
Alles wird durcheinandergewirbelt
Da bereits Sanyal in ihrem Roman Zeit, Ort und Figuren durcheinanderwirbelt, findet sich Durga nicht nur im Körper ihres Doubles Sanjeev (Viet Anh Alexander Tran) wieder. Zurückkatapultiert ins Jahr 1906, diskutiert sie im India House mit den Rebellen der indischen Unabhängigkeitsbewegung, darunter Vinayak Damodar Savarkar, der Vater des Hindunationalismus.
Dass sich Joel in der Inszenierung nicht an den Zeitschleifen aus der Vorlage verhebt, liegt am bewährten Inszenierungsrepertoire: Kostüme wie Maskenbild (Tanja Maderner) tauchen die Darsteller:innen ins Schwarz-Weiße, als Retro-Signal – so auch beim Schattenspiel von Durgas Verwandlung. Während durch die vielen Videoprojektionen die Stränge parallel ablaufen oder etwa die historischen Gesichter des indischen Widerstands auf der Leinwand erscheinen. Fast wie Gespenster.
Bunter wird es, als Savarkar die orange-gelb-grüne Calcutta-Flagge schwenkt, ein Symbol der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Dazu scheppert die Hardcore-Punk-Band „Dead Pioneers“, deren Sänger und Aktivist Gregg Deal klarmacht: „The only good Indian is a dead Indian / I’m a bad Indian. I’m here“. Luis Quintana gibt diesen Savarkar als militanten Antipoden von Pazifismusikone Gandhi, der Bomben bastelt und Frantz-Fanon-Zitate droppt.
Nicht nur die Sieger dürfen Geschichte schreiben. Und so wird die an die Kultserie „Dr. Who“ angelehnte Zeitreise damit kommentiert, dass die Zeitpolizei einen Tag Urlaub habe. Die Sprünge durch das Kontinuum codiert ebenso die Garderobe, die die Darsteller auf der Bühne wechseln wie Geschichtsepochen. Zeitreisesentenzen verkünden indessen alle mal stakkatoartig in die Kamera. In seiner dritten Arbeit während der Intendanz unter Julia Wissert beschwört Joel das Nichtlineare als politische Programmatik.
Die Inszenierung steht exemplarisch für die Intendanz
Das Spiel mit Historie und Perspektive lässt sich auch als einer der Schwerpunkte von Julia Wissert interpretieren, die im September 2020 die künstlerische Leitung in Dortmund übernahm, in einer postindustriellen Stadt, die von ihrer Vergangenheit aus Kohle, Stahl und Bierbrauerei zehrt.
Als jüngste Intendantin in Deutschland eröffnete sie ihre erste Spielzeit mit dem verklausulierten Titel „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?“ Nach den erfolgreichen Jahren ihres Vorgängers Kay Voges, der die Bühne als multimediales Laboratorium auslotete, akzentuierte Wissert das Schauspiel Dortmund als Möglichkeitsmaschine, in der sich Kultur und Stadtraum, Gegenwart und Zukunft durchdringen.
Doch ihr Start war geprägt durch die Pandemieeinschränkungen, wie sie erklärt: „Erst in der dritten Spielzeit konnten wir unter normalen Bedingungen produzieren und die Publikumsresonanz herausfinden.“ Erst langsam kletterten die Auslastungszahlen von 23 Prozent während Corona auf 55 bis 60 Prozent in den Spielzeiten 2023/24 bis 24/25. Ihr Vertrag wurde bis 2030 verlängert. Das geschah nach Initiative des SPD-geführten Kulturdezernats.
Doch erstmals seit 1949 besetzen die Sozialdemokraten in Dortmund nicht mehr das Oberbürgermeisteramt. Das trat im November Alexander Kalouti (CDU) an, zuvor Pressesprecher des Dortmunder Musiktheaters. Wissert lässt sich kein klares Statement über ihren ehemaligen Kollegen entlocken, der im Wahlkampf gegen Arme und Drogenkranke wetterte, nur so viel: Es gehe weniger um das Amt, „sondern was sagt die Person und was ist die Politik, für die sie steht“.
Deutlicher wird Wissert, wenn es um die Kritik an einem zu starken politischen Fokus ihrer Intendanz geht: „Warum wird es bei mir so stark herausgestellt? Nur weil ich hier bin, soll alles politisch sein. Aber das ist es immer, wenn wer die Macht hat, das Theaterprogramm zu gestalten, und die großartige Aufgabe hat, über die Welt erzählen zu dürfen.“
Während ihrer Intendanz etablierten sich vielversprechende Regietalente. Da wäre Lola Fuchs zu nennen, die mit der Neoliberalismus-Satire „Die Not steht ihr gut“ reüssierte. Mit Chuzpe hetze sie zuletzt durch Kleists „Der zerbrochene Krug“, dessen Provinzposse Instagram-mäßig getunt wurde und die Zumutungen der Gegenwart aufgreift: von Deutsche-Bahn-Misere bis Wehrpflichtdienst.
Ähnlich schrill geraten Kieran Joels Inszenierungen, dessen erste Arbeit in Dortmund, „Das Kapital: Das Musical“, eine Kommerzialisierung des Theaters vor Augen führte, indes Marx-Exegeten die Nase rümpfen ließ. Auch mit „Antichristie“ beweist Joel, dass er Haltung und Entertainment verbinden will, versinnbildlicht am Gastauftritt des „politischen Gegners“: Im XXL-Ballonkleid stockend vor Wut über die Repräsentation marginalisierter Identitäten sackt diese Figur ein. Als stecke dahinter nur Luft.





















