Schach-WM: Die verflixte sechste Partie | ABC-Z

Am Sonntag hat Ding Liren aus China gegen seinen indischen Herausforderer Gukesh die sechste von 14 Partien gespielt. So nimmt die WM im Equarius Hotel in Singapur Fahrt auf. Liest die globale Schachgemeinde „sechste Partie“, denkt sie an die WM in Dubai 2021, an Magnus Carlsen gegen Jan Nepomnjaschtschi und deren Kraftkampf in der sechsten Runde, der am Nachmittag begann und nach Mitternacht endete. Sieben Stunden und 46 Minuten, ein Arbeitstag!
Auch den Schachreportern ist es unvergessen: Sie mussten sich nach dem 136. Zug Taxis bestellen, weil die Metro nicht mehr fuhr. Außerplanmäßiges Schach. Fünf Runden lang remis, remis, remis, remis, remis, dann rang der Norweger seinen Herausforderer nieder.
Am Tag danach war „Nepo“, wie man ihn nannte, auf die Statur eines Stofftieres geschrumpft. Ein russischer Bär, den knuddeln mochte, wer wollte; einen Gegenschlag am Brett schaffte er nicht mehr. Nepo war finito, jede der nun folgenden Niederlagen glich einem Kollaps.
In diesem Jahr war solches dem chinesischen Weltmeister schon vor Beginn der WM prophezeit worden. Über Monate hinweg an Schlaf- und Kraftlosigkeit leidend, würde der Geistessportler nicht lange durchhalten, hieß es in den Schachmedien. Er gewann dann gleich die erste Runde.
Gukesh konnte in der dritten Partie zurückschlagen, Konter nach einem missglückten Turmzug. Dazwischen und danach gab es Unentschieden, die von der Laufkundschaft zuverlässig als ungenügend bezeichnet werden, tatsächlich aber die Erwartung nähren, wie damals in Dubai. Remisen sind das Wettkampfgewürz schlechthin, sie verschärfen das Fiebern.
Runde um Runde hat sich ein Muster herausgebildet: Der Weltmeister, 32 Jahre alt, kommt gut ins Spiel. Der Herausforderer, eben erst 18 geworden, muss in leicht schlechteren Stellungen nach Ausgleichsmöglichkeiten suchen, was ihm überzeugend gelingt. Würde das Match in der verflixten sechsten Partie aus der Balance geraten?
Eine seltsame Stellung mit Damen und Türmen und versprengten Bauern
Zunächst sieht es danach aus. Ding Liren mit Weiß spielt schon wieder eine andere Eröffnung, diesmal das Londoner System. Das beginnt mit dem Doppelschritt des Damenbauern, dem ein Hinausziehen des Damenläufers folgt. In der Folge mühelose Entwicklung der Figuren; ein Bauernkeil im Zentrum sichert die eigene Stellung gegen schwarze Übergriffigkeit. Generationen von Clubspielern haben sich mit diesem Konzept ein gemütliches Entrée in den Kampf verschafft, ohne zu viel jener verzweigten Eröffnungstheorie büffeln zu müssen, die das Schach so mühselig macht.
Freilich haben seit einiger Zeit die großen Meister das lang als banal verschmähte System für sich entdeckt und mit tausend Finessen angereichert. Ding und Gukesh kloppen schnell 16 Züge aufs Brett, dann erst werden sie langsamer. Dings Vorbereitung reicht weiter als die seines Gegners, dafür fällt er nach 20 Zügen in ein anhaltendes Grübeln.
Entstanden ist eine seltsame Stellung mit nur noch Damen und Türmen und ein paar versprengten Bauern. Weiß hat einen Freibauern, der sich irgendwann auf der achten Reihe in eine Dame verwandeln könnte, das ist ein langfristiger Vorteil. Sein etwas unsicher stehender König ist der Schwachpunkt, auf den Gukeshs Gegenspiel zielt.