Sarah Iles Johnstons „Von Göttern und Menschen“ | ABC-Z

Hermann Hesse rühmte die „Sagen des klassischen Altertums“ seines schwäbischen Landsmanns Gustav Schwab überschwänglich: In diesem Buch „können wir harmlos und unbeirrt von den Händeln und Stänkereien der Philologen im Land der Griechen und Trojer wandeln und vom Zorn Achills wie vom Unglück des Ikarus in gutem Deutsch ohne Noten und Kommentare lesen“. Besser als den Ploetz sollte jeder Lateinschüler das Werk kennen, eine „ganz unberufene, lärmlose, behagliche Unsterblichkeit“. Über Generationen bildete Schwab im deutschen Sprachraum die Grundlage von Bearbeitungen des reichen Stoffes für die lesende Jugend.
Gut ein Jahrhundert später bereitete der ungarische Philologe und Religionswissenschaftler Karl Kerényi „Die Mythologie der Griechen“ in zwei Bänden auf, ausdrücklich „für Erwachsene“ und geschult an den damals, um 1950, beliebten psychologischen Deutungen dieser Urgeschichten. Während Schwab mit Prometheus beginnt und damit die Menschen von Beginn an eine zentrale Rolle spielen, folgt Kerényi dem epischen Systematiker Hesiod: Beider Welt bevölkern zunächst und noch lange allein die Geschlechter der Götter mit ihren teils grotesken Geburtsgeschichten und Genealogien.
Gegenwärtig übernehmen die Aufgabe, die von antiken Autoren geformten, in der Neuzeit wissenschaftlich sezierten und immer wieder literarisch reorganisierten Erzählstoffe für unsere Zeit neu zu präsentieren, meist Autorinnen. Nicht zuletzt dadurch rücken lange ignorierte Perspektiven, Erfahrungen und Leiden von Frauen stärker in den Blick. Doch während Natalie Haynes kürzlich in diesem Sinne gleich die griechischen Göttinnen in den Mittelpunkt rückte, geht Sarah Iles Johnston, Professorin für Klassische Philologie an der Ohio State University, deutlich konventioneller zu Werke. Stoffumfang und chronologischer Aufbau ihres Buches erinnern ein wenig an Kerényi, plakative Aktualisierungen oder popkulturelle Verweise kommen kaum vor. Auch die erwähnte Perspektivierung ist zurückhaltend angekündigt: Bei jeder berichteten Vergewaltigung habe sie sich „bemüht, den Schock und die Qual der betroffenen Frau oder Göttin zu vermitteln“.
Um die Kluft der gewachsenen Fremdheit gegenüber der mythischen Welt der Hellenen zu überbrücken, lässt Johnston die (im Anhang minutiös nachgewiesenen) antiken Fassungen zurücktreten und präsentiert stattdessen Erzählungen, die ein eigenes Leben haben sollen, einhundertvierzig an der Zahl, mit zwei bis vier Seiten Umfang geeignet auch für Leser mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne. Dialogisch angelegte Passagen beleben den gleichmäßigen Erzählfluss, und ein Sohn der Autorin steuert als professioneller Illustrator Bebilderungen im Stil von Holzschnitten bei, als Alternative zu oft beliebig wirkenden Reproduktionen antiker Vasenbilder und anderer Kunstwerke. Exemplarisch beleuchtet Johnston ferner antike Kontexte, wo sie zum Verständnis nötig erscheinen.
Wirkung und Präsenz der Mythen in der Antike führt die Autorin auf drei Faktoren zurück: die Plurimedialität ihrer Vergegenwärtigung, den episodischen Charakter der Erzählungen sowie ihre Verflechtung untereinander, die sich besser in Netzwerkdiagrammen als in Stammbäumen einfangen lasse. In unserer Zeit dagegen gilt es vor allem, den richtigen Ton zu treffen. Aus der Vorgeschichte des Dramas um Ödipus im finsteren Theben schildert Johnston ein folgenreiches Begehren: Der junge Chrysippos „bewegte sich mit großer Anmut und seine Haut, von der Sonne gebräunt und mit Öl eingerieben, glänzte wie Gold. Laios wurde von Verlangen übermannt. Er entführte Chrysippos und vergewaltigte ihn – zum ersten Mal vergewaltigte ein Mann einen Jungen. Pelops holte Chrysippos zurück und bat die Götter, Laios für seine Tat büßen zu lassen. Zeus erhörte ihn und dachte sich eine Falle aus, die sich langsam um Laios, seine Familie und seine Stadt schließen würde – und die Laios und sein Sohn auch noch selbst bauen sollten.“ Ob derlei für Jugendliche oder Erwachsene erfolgreich neu geschaffen wurde, wird sich weisen müssen.
Sarah Iles Johnston: „Von Göttern und Menschen“. Die griechischen Mythen neu erzählt. Aus dem Englischen von Heike Schlatterer. Mit Illustrationen von Tristan Johnston. C.H. Beck Verlag, München 2025. 558 S., Abb., geb., 36,– €.