Sanktionsexpertin: „Wenn Putin sagen muss, es bestehe kein Grund zur Panik – dann stimmt etwas nicht“ | ABC-Z
Der Westen wollte mit immer schärferen Sanktionen Wladimir Putin in die Knie zwingen. Doch schnell fand er neue Abnehmer für Öl und Gas. Mikroelektronik holt er über China ins Land. Eine Russland-Expertin erklärt, welche Maßnahmen tatsächlich etwas gebracht haben.
Seit Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, hat allein die Europäische Union 15 Sanktionspakete gegen das Regime von Wladimir Putin verhängt. Wichtige Wirtschaftszweige in Deutschland trafen die Einschnitte schwer, vor allem weil die Zeit günstiger Energieimporte mit einem Mal vorbei war. Die Russland-Expertin Stephanie Baker zieht in ihrem Buch „Punishing Putin. Inside the Global Economic War to Bring Down Russia“ (Simon & Schuster) eine Bilanz.
WELT: Konnten die G 7 damit rechnen, dass die Sanktionen Putin nicht stoppen?
Stephanie Baker: Anfangs gab es optimistische Prognosen, dass die russische Wirtschaft infolge der beispiellosen Sanktionen zusammenbrechen würde. Daleep Singh, Washingtons Architekt der Sanktionen, hatte genau das vorausgesagt. Aber es trat nicht ein. Aus meiner Sicht waren die Sanktionen ein gewaltiges Experiment. Nie zuvor hatten die G 7 versucht, derart koordinierte Sanktionen gegen eine so große Volkswirtschaft zu verhängen, die so stark in das globale Finanzsystem integriert war. Daher war es schwer vorherzusagen, wie sich beispielsweise das Einfrieren von Zentralbankreserven im Wert von 300 Milliarden US-Dollar auf die Märkte auswirken würden.
WELT: Welche Sanktionen hätten mehr ausgerichtet?
Baker: Ölsanktionen. Öl war immer der Schlüssel zu Russlands Volkswirtschaft. Und es ist der Schlüssel, um Putins Fähigkeit zur Fortsetzung des Kriegs in der Ukraine zu untergraben, Ölexporte machen ein Drittel von Putins Budget aus. Ende 2022 wollten die G 7 eine Preisobergrenze für russisches Öl vereinbaren. Aber Bidens Regierung verfiel in Panik.
WELT: Warum?
Baker: Weil das kurz vor den Midterm-Wahlen war und die Benzinpreise nicht in die Höhe schnellen durften. Deshalb einigte man sich darauf, westliche Dienstleistungen für Transporte zu verweigern, die mehr als rund 60 US-Dollar pro Barrel kosteten. Das funktionierte eine Weile. Russisches Öl wurde mit einem starken Abschlag gehandelt. Aber dann entwickelte Russland seine Schattenflotte von Öltankern. Und jetzt werden 90 Prozent des russischen Öls auf dieser Schattenflotte alter rostiger Tanker gehandelt.
WELT: Welche Sanktionen haben Putin wehgetan?
Baker: Die Finanzsanktionen. Sowohl das Einfrieren der Zentralbankreserven Russlands als auch den Rauswurf russischer Banken aus dem Swift-Bezahlsystem. Zeitweise standen 80 Prozent des russischen Bankensektors unter Sanktionen. Und jetzt, kurz vor dem Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus, ergreift die Biden-Regierung weitaus strengere Maßnahmen, um die Ukraine in die beste Verhandlungsposition zu bringen. Biden tut jetzt die Dinge, die er schon vor zwei Jahren hätte tun sollen. Etwa die Sanktionierung der Gazprom-Bank, die in Russland Panik ausgelöst hat, der Rubel stürzte zeitweilig ab. Putin musste sagen, es bestehe kein Grund zur Panik. Wenn der russische Präsident das sagen muss, stimmt etwas nicht.
WELT: Welche Rolle hat Olaf Scholz gespielt beim Thema Sanktionen?
Baker: Meinen Quellen zufolge war der deutsche Bundeskanzler bei einem G-7-Telefonat am Tag vor der Invasion gegen die Einführung präemptiver Sanktionen, obwohl die Geheimdienste klar voraussagten, dass eine russische Invasion unmittelbar bevorstehe. Scholz bevorzugte die Idee einer ,strategischen Mehrdeutigkeit’. Also Russland im Unklaren zu lassen, wie hart der Westen im Falle einer Invasion zurückschlagen würde. Damit Putin nicht vorsorgend seine Assets verschiebt. Darüber wird es weiter eine Debatte geben, ob der Westen – anders als von Scholz verlangt – bereits Sanktionen hätte verhängen sollen als Russland noch bei der Vorbereitung der Invasion war.
WELT: Wer ist wegen der Sanktionen nun Russlands großer Abnehmer?
Baker: Was Öl angeht, da konnte Russland Europa als Käufer durch Indien ersetzen. In einem Ausmaß, mit dem vorher nur sehr wenige Experten gerechnet hätten, auch in der Biden-Regierung. Jetzt saugt Indien russisches Öl auf, verarbeitet es in indischen Raffinerien und verschifft es zurück nach Europa.
WELT: Und in Hinsicht auf Gas?
Baker: Die große Geschichte, die meiner Meinung nach nicht genug Beachtung findet, ist, dass Russland seinen Hauptkunden für russisches Gas verloren hat. Gazprom hat zum ersten Mal seit über 20 Jahren Geld verloren. Es war jahrelang eine Cashcow für Putin. Das Unternehmen hatte aber nicht in LNG investiert, der Großteil seiner Produktion ging über Rohrlieferungen nach Europa. Weil Europa als Markt ausfällt, verfügt Gazprom über keinen Kundenstamm mehr. Es kann nicht so viel russisches Gas nach China transportieren. Die Leistung der Sibirien-Pipeline ist relativ klein und Russland verfügt nicht über die erforderliche LNG-Kapazität. Moskau bräuchte westliche Technologie und Schiffe, um das zu tun. Das war für die russische Wirtschaft sehr schädlich.
WELT: Wie groß ist die Umgehung der Sanktionen?
Baker: US-Beamte sind wirklich rasend vor Wut angesichts der Umgehungsnetzwerke, die sie in der Türkei gesehen haben. Ansonsten findet die größte Umgehung bei Importen von Halbleitern und Mikroelektronik über China und Hongkong statt. Da ist der Handel enorm. All diese Zwischenhändler gründeten Unternehmen, größtenteils in Hongkong, einige jedoch auch in der Türkei und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, um alle Dinge zu liefern, die das russische Verteidigungsministerium für seine Präzisionswaffen benötigt.
WELT: Was ist die vielleicht wichtigste Bilanz des Buchs?
Baker: Dass es eine Lüge ist, wenn Putin sagt, dass die Sanktionen dem Westen mehr wehtun als Russland. Was allerdings zutrifft ist, dass die Sanktionen den Westen unterschiedlich treffen. Deutschland bekommt sie mehr zu spüren als andere Länder.