Kultur

Sammelband zeigt wie Musikfans die strikte staatliche Zensur umgingen | ABC-Z

Eine dünne Folie aus Röntgenfilm. Auf ihr zu sehen sind zwei Skeletthände, die von einer spiralförmigen dünnen Rille überlagert werden. So sieht eine der Schallplatten aus, auf denen von den 1940ern bis in die 1960er Jahre verbotene Musik im Ostblock zirkulierte. In der Sowjetunion gab es nur eine einzige staatliche Plattenfirma, Melodija. Da sie direkt dem totalitären Regime unterstand, nutzten Musikfans den sogenannten Roent­genizdat, um Musik zu vervielfältigen. Ähnlich wie Samisdat-Literatur, die in heimlich erstellten Kopien illegal weiterverbreitet wurde.

Der britische Musiker und Autor Stephen Coates (The Real Tuesday Weld) widmet sich in einem Kapitel des Sammelbands „Unearthing the Music. Footnotes to Sonic Resistance in Non-democratic Europe (1950–2000)“ diesem ungewöhnlichen „Protestmedium“. Mit einer selbst gebauten Apparatur konnte Musik wie auf einer Schallplatte in Röntgenbilder geschnitten werden. So wurde die strikte staatliche Zensur umgangen und auf einer Röntgenschallplatte jeweils drei bis vier Minuten verbotene Musik aufgezeichnet und geteilt. Die Genres umfassten Jazz und Rock ’n’ Roll, Musik von sowjetischen Emigranten wie dem als „König des russischen Tango“ bekannten Pjotr Leschtschenko – dessen Geburtsort in der heutigen Ukraine liegt – und buchstäblichen Liedern aus dem Untergrund – Gossensongs voller Slang und Schimpfwörter, sogenannte „Blatnaja-Musik“.

Coates schreibt, seine intensive Beschäftigung mit dem Roentgenizdat habe begonnen, als er beim Stöbern auf einem Flohmarkt in Sankt Petersburg ein solch ungewöhnliches Album entdeckte. Das Medium wurde in den frühen 1960er Jahren abgelöst vom „Magnetizdat“. In der Tauwetterperiode unter Nikita Chruschtschow trat eine allgemeine Liberalisierung in der Kultursphäre ein, Tonbandgeräte waren nun verfügbar und für alle erschwinglich. Per Knopfdruck konnten verbotene Melodien kinderleicht kopiert werden, und das in besserer Qualität als auf Roent­gen­film. So wurde der 1980 gestorbene russische Singer-Songwriter Wladimir Wyssozki allein durch „Magnetizdat“ berühmt, ohne je offiziell ein Album veröffentlicht zu haben.

Ende der 1980er Jahre zogen sowjetische Rockbands wie Aquarium und Kino nach, wobei deren Alben im Studio aufgenommen und wesentlich professioneller gestaltet waren. Diese interessanten mediengeschichtlichen Entwicklungen sind dem gerade beim Leipziger Verlag Spector Books erschienenen verdienstvollen Sammelband „Unearthing the Music“ zu entnehmen, der aus einem gleichnamigen Projekt entstanden ist – einem Online-Archiv für experimentelle Underground- und Protestmusik aus dem unfreien Europa.

Das Buch

Rui Pedro Dâmaso/Alexander Pehlemann/Lucia Udvardyová (Hrsg.): „Unearthing the Music. Footnotes to Sonic Resistance in Non-Democratic Europe (1950–2000)“, Spector Books, Leipzig, 2025, 624 Seiten, 28 Euro

Punk im Kommunismus

In dem über 600 Seiten dicken, von Rui Pedro Dâmaso (Barreiro), Alexander Pehlemann (Leipzig) und Lucia Udvardyová (Prag) herausgegebenen Buch kommen vor allem Menschen zu Wort, die selbst Teil des Undergrounds waren oder ihn aus eigener Erfahrung kennen. Darunter sind Outsiderperspektiven wie diejenige des britischen Musikjournalisten und The-Wire-Chefredakteurs Chris Bohn (alias Biba Kopf), der den Ostblock auf der Suche nach Underground-Sounds bereiste, aber auch Insiderberichte.

So widmet sich die tschechische Kulturwissenschaftlerin und Musikerin Pavla Jonssonová in ihrem Text Künstlerinnen im Ostblock-Underground. Mit ihrer 1980 in Prag gegründeten Band, die zunächst Plyn (Gas), dann Dybbuk und schließlich Zuby nehty (Zähne und Nägel) hieß, war Jonssonová eine von ihnen. In ihrem Kapitel „New Chicks on the Block: Punk in Communism“ berichtet sie über weiblichen Punk in der Tschechoslowakei, den sie aus eigener Erfahrung genau kennt, sowie im Dialog mit anderen Mu­si­ke­r:in­nen über Punk-Musikerinnen in Estland, Russland und dem wesentlich freieren Jugoslawien. Ihr Fazit lautet: In den 1980ern haben junge Frauen nicht mehr nur Fans oder Groupies sein wollen. Nein, sie hatten etwas zu sagen.

Zugleich wäre es falsch, schreibt Jonssonová, von den Ostpunk-Protagonist:innen feministische Statements zu erwarten, wo es noch gar keinen solchen Diskurs gab. Trotzdem hätten sie „ihren Teil zur Geschichte beigetragen und den Kanon“ mit neuen Themen, vitaler Energie und Humor bereichert.

Die ukranische Sprache kam bei Punkkonzerten zurück

Der in Berlin lebende, aus Charkiw, Ukraine, stammende DJ und Autor Yuriy Gurzhy schildert seine ersten Begegnungen mit Punk in den 80er Jahren. Eindrücklich beschreibt er das „Rock Gegen Stalinismus“-Festival in seiner Geburtsstadt Charkiw, das 1989 stattfand – zur Zeit der Perestroika, zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dort gaben die sibirischen Punks von Grazhdanskaya Oborona einen Überraschungsgig. „Die Bühne wurde plötzlich von langhaarigen Verrückten übernommen, die in perfektem Guerilla-Stil ein Set heftiger, lauter Rockmusik spielten, sieben Songs in 17 Minuten, und das Publikum schockiert und sprachlos zurückließen“, schreibt Gurzhy.

Die Musiker von VV aus Kyjiw traten ebenfalls beim Festival auf. Laut dem DJ handelt es sich dabei um die erste ukrainische Punkband überhaupt. „Die coolen Auftritte von VV in den späten 1980ern waren immer eine Offenbarung. Sie weckten mein Interesse an der ukrainischen Kultur und brachten mich dazu, mehr über ähnliche Bands zu erfahren“, schreibt Gurzhy. Nach langer Russifizierung und Unterjochung erst unter den Zaren und später in der Sowjetunion kam die ukrainische Sprache und Kultur wieder in Mode, und zwar in Punkform.

Neben Mittel- und Osteuropa steht auch die iberische Halbinsel während der isolationistischen Diktaturen in Portugal und Spanien und auch Griechenland zu Zeiten der Militärdiktatur im Fokus des Sammelbands. Der aus Portugal stammende Mitherausgeber Dâmaso schreibt: „Was der Osten und der Südwesten gemeinsam haben, ist das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören, hinterherzuhinken, entscheidende Momente verpasst zu haben, die die westliche Kultur geprägt haben, am Rand zu stehen und den größten Teil ihrer jüngeren Geschichte unter großen Entbehrungen verbracht zu haben.“ Und später, „als alles vorbei war“, sei das Gefühl eingetreten, immer noch nicht den Anforderungen zu entsprechen, immer noch exotisch zu sein und zugleich erschüttert von einer turbokapitalistischen Normalisierung. Bei den Beiträgen des Bandes handele es sich um Fußnoten, weil man nicht vorgeben wolle, ein großes, allumfassendes Narrativ parat zu haben.

Flankiert werden alle Texte von Fotografien, Postern und Albumcoverillustrationen, die das Geschilderte eindrucksvoll bebildern. Man taucht ein in eine spannende, komplexe und in Teilen vergessene Welt des musikalischen Widerstands gegen den Totalitarismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in West- und Osteuropa. Die Geschichten von Mut, Freiheitsgeist und Kreativität der Prot­ago­nis­t:in­nen bieten eine inspirierende wie – leider – zunehmend wieder aktuell erscheinende Lektüre.

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