Wohnen

S-charl in der Schweiz ist ein fast unberührtes Juwel | ABC-Z

Semino und Caetano sind ein ungleiches Paar. So pflichtbewusst das Arbeitstier Semino ist, so unbeständig gibt sich Caetano. Nur nicht hetzen, scheint sein Motto zu sein. Das Rackern überlässt er Semino. Genau deshalb hat Bea Grimm Semino und Caetano zusammengespannt. Caetano soll von Semino lernen. „Ja!, super, bravo! Weiter so!“, redet Bea Grimm Caetano gut zu. Ob sie damit Erfolg hat, muss bezweifelt werden. „Läuft doch“, scheint er mit einem behaglichen Schnauben zu sagen, nachdem er sich unauffällig zurückfallen ließ.

Die beiden fuchsroten Wallache sind Freiberger, eine ursprüngliche Schweizer Pferderasse, die für die schwere Arbeit in der Berglandwirtschaft gezüchtet wurde. Heute eignen sich Freiberger für den Einsatz im Tourismus oder Sport. Vergraben unter einem Berg Wolldecken, in dicken Handschuhen, über der Mütze zusätzlich die Daunenkapuze unserer Jacke festgebunden, sitzen wir auf dem Kutschbock neben Bea Grimm. Sie lenkt das Gefährt ins S-charltal hinein, ein wildes, beinahe menschenleeres Seitental des Unterengadins. Im Winter bleibt die schmale Zufahrtsstraße für den motorisierten Verkehr gesperrt. Ganz hinten im Tal liegt S-charl, etwa 20 Häuser, von denen die meisten nur an wenigen Tagen im Jahr bewohnt werden. Im Gasthaus Mayor haben wir ein Zimmer gebucht.

Das Hotel Mayor im Unterengadin ist der ideale Ort, um zur Ruhe zu kommen.Gasthaus Mayor

Die Siedlung bildet den idealen Ausgangspunkt für Winterwanderungen. Da wir morgen eine Skitour unternehmen wollen, kommt uns die kraftsparende Anreise recht. Einen besseren Beobachtungsposten als den Kutschbock gibt es nicht. Beim Losfahren am Nachmittag ist es noch halbwegs hell. Vor ein paar Tagen hatte es geschneit, nun ist die spektakuläre Gebirgskulisse in Weiß gehüllt. Alles glitzert: der Weg, die Bäume, die fast senkrechten Felsen über der Clemgiaschlucht. An Holzzäunen kleben leuchtende Samtbordüren. Tief unten fließt der Clemgiabach. Das in mehrere Arme verzweigte Gewässer hebt sich wie ein dunkler Zopf vom gepolsterten Weiß rundherum ab. Die Pferde trotten, die Glöckchen klingeln, die Biologin Bea Grimm, die jahrelang in Büros hockte und nun hier in der Natur ihr Glück gefunden hat, murmelt ihnen ab und zu einen aufmunternden Halbsatz zu.

Dann bewegt sich etwas an der gegenüberliegenden Felswand. Sind das Felsbrocken, die inmitten einer Schneewolke zum Bach hinunterrollen? Nein, unmöglich. Die „Brocken“ wechseln nämlich die Richtung und springen in großen Sätzen quer zum Hang – zwei Gämsen. Sie treffe die Gämsen hier oft, manchmal stünden sie auch mitten in der Fahrbahn, winkt Bea Grimm ab. „Pferde und Gämsen kennen sich, man beachtet sich kaum.“ Unterdessen ist es finster geworden. Auf der etwa acht Kilometer langen Strecke bis zum Dorf gibt es weder Häuser noch eine Straßenbeleuchtung. Nur die Sterne und die hinter den Felsgraten hervorrollende Mondsichel spenden ein spärliches Licht. „Ich orientiere mich an den Schneehaufen am Wegrand, die Pferde wissen, wo es langgeht“, sagt Bea Grimm. Als wir den Ortseingang von S-charl erreichen, kommt uns ein Mann auf einem Motorschlitten entgegen, das grelle Scheinwerferlicht blendet. Erschrocken reißen die Pferde ihre Köpfe empor, die Glöckchen an ihren Hälsen klingeln jetzt nicht mehr sanft, es ist ein lautes Rasseln. „He, was soll das?“, schreit Bea Grimm. „Den werden wir zusammenstauchen – hier darf keiner mit einem Motorschlitten fahren, wenn wir mit den Pferden unterwegs sind“, sagt sie. „Man weiß eben, was man an den Freibergern hat!“, lobt Grimm die Pferde. Dann sind wir da – tiefgekühlt wie ein Eiszapfen klettern wir vom Kutschbock.

Allein auf weiter Flur: Die Gemeinde S-charl ist eine echte Entdeckung
Allein auf weiter Flur: Die Gemeinde S-charl ist eine echte EntdeckungHelmut Luther

Die mit Geweihen geschmückte Stube des Gasthofs Mayor ist offenbar das Wohnzimmer der S-charler. „Wir reden zwar immer das Gleiche, über das Wetter zum Beispiel, dafür brauchen wir kein Fernsehen oder Netflix“, grinst ein Kerl in grünem Wollpullover. Mit seinem Bierglas dem Wirt hinter dem Tresen zuprostend, sagt der Mann im Wollpullover: „Gell, wir beide sind die ein­zigen Ganzjahres-Einwohner von S-charl!“ Seit er in Rente sei, fügt der Mann hinzu, er heißt Andri Huber, wohne er ganz in S-charl. Mit Holzhacken und Wildbeobachten vergehe der Tag. „Du musst mit dir selbst gut auskommen, sonst ist S-charl der falsche Ort“, sagt Huber. Sein Nebenmann nickt zustimmend. Auch Andreas Dennler, der Nebenmann, trinkt ein Bier, auf seiner Lederweste steckt ein Sheriffstern. Als später Bea Grimm, die Kutscherin, sowie seine Frau Carole mit den beiden gemeinsamen Kindern am Nebentisch Platz nehmen, setzt sich Andreas Dennler zu ihnen. Grimm arbeitet für die Dennlers, die im Sommer auf ihrem Bauernhof in Zuoz Familientage oder Reitausflüge mit Pferden anbieten. Seit zwei Jahren wohnen sie im Winter in S-charl und übernehmen mit ihren Kutschen den Gäste- und Materialtransport. Carole, die Grundschullehrerin, unterrichtet den Sohn Florin zu Hause.

Nostalgische Gefühle

Jetzt blättert der Siebenjährige in einem Kinderbuch. Die zweieinhalbjährige Tochter Seraina spielt mit ihrer Puppe. „Es ist schon speziell, mich schnell zum Kaffeeklatsch mit Freundinnen treffen kann ich hier nicht“, sagt Carole. Sonst jedoch vermisse sie wenig in S-charl. Wie ihr Mann Andreas ist auch sie mit Pferden aufgewachsen. Als wir die Familie, die Eltern mit Stirnlampen, die Kinder vermummt in Thermokleidung, später unter dem Sternenhimmel über die verschneite Fahrbahn zu ihrem Haus am Ortsrand hinunterrodeln sehen, werden nostalgische Gefühle wach.

Am nächsten Morgen hot uns Bergführer Jachen Andri Plantal ab. „Ist guat“, sagt Planta, nachdem er getestet hat, ob unser umgeschnalltes Lawinensuchgerät funktioniert. Als die Klebefelle montiert sind, starten wir direkt vor dem Gasthaus, das Thermometer zeigt Minus 9 Grad. Weit kommen wir zunächst jedoch nicht. Vor einem Brunnen, wo sich das Wasser unter dem tropfenden Rohr in eine wulstige Eisskulptur verwandelt hat, bleibt Planta stehen und blickt an einem imposanten Gebäude empor: „Das ist das Knappenhaus“, bis Mitte des 19. Jahrhunderts sei rund um S-charl Blei und Silber abgebaut worden. Im Mittel­alter, erzählt der Bergführer, habe das Geschlecht der Planta eine Zeit lang die Schürfrechte in S-charl innegehabt.

Unter weiß bestäubten Lärchen, die weiter oben von Arven abgelöst werden, wandern wir dem mäandernden Clemgiabach entlang. Wir heften uns an die Skienden des Bergführers. Klack, klack, machen die Bindungen. Die Kunstfelle unter den Brettern surren bei jedem Schritt. Da der Guide ein gemächliches Tempo vorlegt, bleibt Zeit, die umliegende Natur zu betrachten. An Lärchen hängt Baumbart. Im Schnee kreuzen sich Wildspuren. Sie münden am Bach, jetzt im Winter die einzige Trinkquelle. „Das Wasser, das hier nie versiegt, es ist doch ein Wunder!“, sagt Planta mit Blick auf den Clemgia, der mal über Felsen plätschert, mal unter einer Schneedecke verschwindet.

Das Gelände weitet sich, der Wald ist schütterer geworden. An einer Ebene, sie heißt Plan d’Immez, überqueren wir den Bach auf einer Brücke. Im Westen ragt der 2797 Meter hohe Mot das Gajer auf. Für den Bergführer wird es nun hart, er muss über Neuschneehänge teils steil bergauf spuren. Im Zickzack umkurven wir letzte Arven, knorrige Solitäre, manche wurden von Blitzeinschlägen geschwärzt. Als in einem Baumwipfel das Kräkräkräh eines Tannenhähers ertönt, sagt Planta: „Der Tannenhäher ist ein Warnvogel. Weil er ihnen die Beute vertrieb, rotteten ihn die Jäger fast aus.“ Als sich jedoch zeigte, dass der Vogel wesentlich zur Verbreitung der Arve beiträgt, indem er ihre Zapfen aufhackt, um an die Samen zu kommen, hätten die Jäger ein Einsehen gehabt. „Heute gilt der Tannenhäher als nicht mehr gefährdet“, sagt Planta. Nachdem wir eine Alphütte passieren, steigen wir in einer Scharte aus unsren Skiern. Den Gipfel des Mot das Gajer, eigentlich das Ziel, schenken wir uns. „Oben hat der Wind den Schnee weggeblasen“, sagt Planta. Während wir unser Picknick futtern, erklärt unser Begleiter den Unterschied zwischen einem Bergführer und einem Skilehrer: Im Gegensatz zu Letzterem könne der Bergführer, wenn er keine Lust auf Gespräche habe, einfach das Tempo erhöhen. „Dann geht den Kunden die Puste aus, und sie hören mit dem Gelaber auf.“ Jachen Andri Plantas Grinsen verrät, er ist lieber Bergführer.

Zurück nach S-charl fahren wir entlang der Aufstiegsspur. Die Schleifen, die Planta in das Weiß malt, sehen deutlich eleganter als unsere aus. Am Rand von S-charl kommen wir an einer Einzäunung vorbei, hinter der die Freiberger der Familie Dennler Heu aus einer Raufe rupfen. Wir zählen acht Pferde. Sieben drehen neugierig ihre Köpfe in unsere Richtung. Eines kehrt uns seinen Rücken zu. Klar, das ist Caetano. Er will uns wohl deutlich machen, dass er Besseres vorhat, als uns nach einem Bier hinaus aus dem Tal zu kutschieren.

Weitere Informationen unter: www.gasthaus-mayor.ch.

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