Russlandpolitik: “Diese Mischung aus Gehorsam, Angst und aufbrechender Wut: Das ist leider etwas absolut Kindisches, im unguten Sinn” | ABC-Z
DIE ZEIT: Herr Martin, vor ein paar Wochen hat Ihre Rede im Schloss Bellevue für Aufregung gesorgt. Wie haben Sie die Debatte erlebt, die daraufhin entbrannte?
Marko Martin: Ich war schon ein wenig überrascht von der Wucht, zumal ich eigentlich wenig Neues gesagt habe. Dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor ein paar Jahren noch von einem “Säbelrasseln” der Nato gegenüber Wladimir Putin gesprochen und gleichzeitig das unsägliche Nord-Stream-Projekt wider alle Kritik permanent schöngeredet hatte, war ja hinlänglich bekannt. Es war dann vor allem seine Reaktion auf die Rede – dass er also wütend auf mich zustürmte und mich zurechtweisen wollte –, die für jene Aufmerksamkeit und die Debatte sorgte. Damit hätte ich nicht gerechnet. Steinmeiers emotionale Reaktion korrespondierte aber mit einem weiteren Punkt in meiner Rede: Ich hatte dort ja auch von westdeutschen Wahrnehmungsdefiziten gesprochen.
ZEIT: Wie meinten Sie das?
Martin: Viele Westdeutsche machen es sich oft zu einfach, indem sie ihre eigenen Probleme negieren und auf den Osten projizieren. Dahinter verbirgt sich das Selbstverständnis, dass “man” im Westen aufgeklärt sei und “die” Ostdeutschen noch viel nachzuholen hätten. Gerade in der Russlandpolitik zeigt sich aber, dass es nicht nur ostdeutsche Politiker waren, die fatalerweise die Annäherung an Putin gesucht hatten. Und doch wirkt es in der Debatte bis heute so, als seien allein die Ostdeutschen “den Russen” gegenüber zu naiv. Das stimmt nicht. Aber nicht falsch verstehen, ich nehme “die” Ostdeutschen nicht in Schutz. Ich versuche nur, auf die blinden Flecken auf beiden Seiten hinzuweisen.
ZEIT: Sie sprachen in Ihrer Rede auch über die spezifisch ostdeutschen Probleme, darüber sollten wir gleich reden. Lassen Sie uns aber kurz noch bei den Reaktionen bleiben, die Sie erhalten haben: Manche bezeichneten Sie als mutig, andere wiederum warfen Ihnen vor, “mehr Krieg” zu fordern.
Martin: Als ich gelesen habe, dass ich angeblich Krieg wolle, weil ich für die Unterstützung der Ukraine eintrete, musste ich lachen und an den Satz von Karl Kraus denken: “Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben – man muss ihn auch ausdrücken können.”
ZEIT: Diese Kritik gab es nur vereinzelt. Vor allem wurden Sie für Ihren Auftritt gelobt, auch in der ZEIT war von einer “Sternstunde der Demokratie” die Rede.
Martin: Viele Menschen haben mir geschrieben, meist war die Rückmeldung positiv. Und ja, manche bedankten sich für meinen Mut, den Bundespräsidenten bei so einer Feierstunde direkt kritisiert zu haben. Aber bitte, das ist doch nicht mutig.
ZEIT: Was Sie in Ihrer Rede über den Osten gesagt haben, ist in der Debatte dann ein wenig untergegangen. Sie wünschten sich eine Diskussion über die “fortwirkende Einsamkeit” derjenigen, die 1989 auf die Straße gegangen sind. Was meinen Sie damit?
Martin: Wenn ich im Osten unterwegs bin, vor allem in den kleineren Orten, dann sehe ich, dass es Leute wahnsinnig schwer haben, die sich etwa für Geflüchtete oder für eine intakte Erinnerungskultur einsetzen. Ein Beispiel: In der Stadt Reichenbach im Vogtland befand sich ein Gedenkstein für den Schriftsteller Jürgen Fuchs. Dieses Denkmal wurde kürzlich vom Bürgermeister aus offenbar vorgeschobenen bürokratischen Gründen entfernt. Man kann sagen, das ist eine Petitesse. Aber Fuchs war Oppositioneller und hat die gesellschaftlichen Mentalitäten vom “Dritten Reich” bis zur DDR beschrieben, dieses Fortwährende des Angstmachens, des Sichwegduckens und Mitmachens. Dass jemand wie er in seiner Heimatstadt heute anscheinend als Ärgernis betrachtet wird, lässt tief blicken. Ich höre oft von Leuten, die sich gegen so etwas wehren, dass sie sich sehr allein fühlen. Und dass sie scheel angeschaut werden für ihr Engagement.
ZEIT: Sie sagten in Ihrer Rede auch, dass 1989 keine wirkliche befreiende Zäsur gewesen sei. Wie kommen Sie darauf?
Martin: Na klar war das eine befreiende Zäsur. Aber sie wurde eben nicht von allen als solche erfahren. Es ist natürlich so: Viele von denen, die auf die Straße gegangen waren, fanden sich dann in der Demokratie mental besser gerüstet als die anderen, die, statt zu protestieren, lieber gesagt hatten: Warten wir mal ab, schauen wir erst mal, was passiert. Ich erinnere mich an meine Mitschüler in der DDR, die mich zum Teil beneideten, weil ich keine Pionierhalstücher trug. Ich hab ihnen gesagt, dass sie das doch auch tun könnten. Ihre Eltern, sagten sie mir daraufhin, hätten ihnen jedoch eingetrichtert: Verbau dir deine Zukunft nicht, mach einfach mit, heul mit den Wölfen. Wenn du aufwächst mit genau dieser Message – sei ruhig, warte ab, riskier nichts –, dann schwächt das deine Widerstandskräfte. Weil du da mit gekrümmtem Rückgrat aufwächst, und irgendwann merkst du gar nicht mehr, dass du gebückt herumläufst. Das Sichwegducken wird zum Normalzustand. Und das Vor-sich-hin-Grummeln zum Ausweis vermeintlicher Kritikfähigkeit. Genau dieses unerwachsene Rumgequengel vernehme ich bis heute. Diese Mischung aus Gehorsam, Angst und aufbrechender Wut: Das ist leider etwas absolut Kindisches, in einem unguten Sinn.