Russland: Putins verzweifelter Schritt gegen den Bevölkerungsschwund | ABC-Z
Demografieforscher prognostizieren Russland einen dramatischen Bevölkerungsschwund. Putin hat nun die angeblich Schuldigen identifiziert: Frauen, die keine Kinder bekommen wollen. Ein neues Gesetz sieht herbe Maßnahmen vor. Der Abwärtstrend hat jedoch einen ganz anderen Grund.
In Russland werden immer weniger Kinder geboren – und der Kreml hat einen Schuldigen ausgemacht: angebliche „Childfree-Propaganda“, die nun verboten wurde. Die absurd anmutende Maßnahme wird reale Folgen für jeden haben, der sich gegen Kinder entscheidet oder sexuelle Aufklärung betreibt – aber nichts am Abwärtstrend der Geburtenrate ändern.
Präsident Wladimir Putin betont seit Jahren die Bedeutung von mehr Kindern für Russlands Zukunft. „Je mehr Kinder, desto besser!“, lautet seine Devise. Mit verschiedenen Maßnahmen versucht der Kreml seit fast zwei Jahrzehnten, die Geburtenrate zu steigern. Es begann mit Einmalzahlungen für das zweite Kind, später auch für das erste. Neuerdings gibt es regelmäßiges Kindergeld ab dem ersten Kind.
Kurzzeitig schien diese Politik erfolgreich zu sein. Ab 2006 stiegen die Geburtenzahlen, ihr Höhepunkt wurde 2015 erreicht. Doch seither sind die Zahlen rückläufig, trotz aller Anreize. Laut Prognosen der Vereinten Nationen dürfte Russlands Bevölkerung bis zum Jahr 2100 auf 125 Millionen Menschen sinken – trotz Zuwanderung. Das wären rund 20 Millionen weniger als heute. Russland wird sich mit Mühe in der Top-20 der bevölkerungsreichsten Länder der Welt halten können.
Nun greift der Kreml zu drastischen Mitteln. Kürzlich ist ein Gesetz in Kraft getreten, das helfen soll, „traditionelle Familienwerte“ zu bewahren und die „Verbreitung von Propaganda der Kinderlosigkeit“ verbietet. Die „Weigerung, Kinder zu bekommen“, trage alle Züge einer „destruktiven Ideologie“.
Für ihre Verbreitung drohen neuerdings sogenannte Administrativstrafen von umgerechnet bis zu 3500 Euro für Privatpersonen und bis zu 43.000 Euro für Organisationen wie Internetanbieter, Verlage, Fernsehsender oder Kino-Produktionsfirmen.
Das Gesetz könnte weitreichende Folgen haben. Jede öffentliche Diskussion über Familienplanung, Verhütung oder die Entscheidung gegen Kinder könnte als „Propaganda der Kinderlosigkeit“ gewertet werden. Inhalte, die nicht der staatlichen Linie entsprechen, sollen aus sozialen Medien, Fernsehsendungen und Filmen verschwinden. „Wer sich nicht im Sinne des Staates äußert, verstößt gegen das Gesetz“, lautet die Botschaft.
Kinderlosigkeit ist in Russland nicht gewollt
Rein formal bekämpft das Gesetz ein Problem, das es eigentlich nicht gibt. Nur etwa fünf Prozent der Russen geben in Umfragen an, kinderlos bleiben zu wollen. Außerdem bekommen Frauen in Russland ihr erstes Kind im Schnitt früher als Frauen in Westeuropa, was theoretisch zu höheren Geburtenzahlen führen könnte.
Das wahre Ziel des Gesetzes ist perfider: Frauen unter Druck zu setzen. Die Zeit des Zuckerbrots in der russischen Familienpolitik scheint allmählich zu Ende zu gehen. Nun setzt der Kreml auf repressive Methoden, um Frauen ein traditionelles Rollenbild aufzuzwingen. Der Abgeordnete Alexander Iltjachow bezeichnete Frauen gar als „Gebärmaschinen“, die Kinder zur Welt bringen sollen, solange ihr „Gebärapparat“ funktioniere. Die Ethik-Kommission der Duma hatte an dieser Aussage nichts auszusetzen.
Bislang schreckt der Staat vor dem ultimativen Einschnitt zurück, den die Kirche seit Jahren fordert: dem generellen Abtreibungsverbot. Abtreibungen sind in Russland seit Sowjetzeiten legal, und eine klare Mehrheit der Bevölkerung will das auch beibehalten. Doch die Bedingungen verschärfen sich. In manchen Regionen sind Abtreibungen in privaten Kliniken bereits verboten. Zudem müssen Frauen verpflichtende Beratungsgespräche führen, oft unter Leitung kirchlicher Vertreter.
Das russische Gesundheitsministerium meldete 2021, 50.000 Abtreibungen verhindert zu haben. Doch die Zahlen relativieren sich: Die Zahl der Abtreibungen hat sich in den letzten zehn Jahren ohnehin mehr als halbiert. Auch eine Rückkehr der „Kinderlosen-Steuer“ aus Sowjetzeiten wird diskutiert. Doch Experten bezweifeln den Nutzen solcher Maßnahmen.
Die demografischen Probleme Russlands lassen sich durch Gesetze oder Anreize allein nicht lösen. Der Demograf Anatoli Wischnewskij erklärte bereits vor Jahren: „Unsere Bevölkerung wird schrumpfen, egal, was wir tun.“ Der Grund liegt in der Vergangenheit: Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter sinkt seit Jahren.
Diese Entwicklung geht auf mehrere historische Ereignisse zurück, darunter die wirtschaftliche Krise der 1990er-Jahre und die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Während des Krieges starben rund 14 Millionen Menschen, und mehr als sechs Millionen Kinder wurden gar nicht erst geboren, schätzt das Statistikamt Rosstat. Diese Lücken wirken bis heute nach.
Auch der Erfolg des Förderprogramms Mitte der 2010er-Jahre ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass damit die letzten großen Jahrgänge der Sowjetzeit gefördert wurden. Sie waren ohnehin größer als die nachfolgenden – Russland dürfte die kaum je übertreffen. Kinder der späten 1980er-Jahre bekamen mehr Kinder. Danach kam die Senke wieder.
Einige Regionen versuchen, junge Frauen mit Einmalzahlungen von rund 1000 Euro zum Kinderkriegen zu bewegen. Doch der Demograf Alexej Rakscha hält das für ineffektiv. Selbst ein Abtreibungsverbot würde wenig ändern, schreibt er in seinem Blog. Er hält die Prognosen der Vereinten Nationen für 2100 sogar für zu optimistisch. „Wenn sich nichts ändert, könnte Russlands Bevölkerung unter 100 Millionen fallen“, warnt er.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.