Kultur

Roman von Nobelpreisträgerin Han Kang: Schnee auf ihren toten Gesichtern | ABC-Z

Zwei Jahre hat Gyeon­gha an ihrem Roman über das Massaker in Kwangju im Südkorea der 1980er Jahre gearbeitet. Recherchierte in Archiven, sprach mit Zeitzeugen. Seitdem hat sie Symptome, die einer posttraumatischen Belastungsstörung gleichen. Nachts wie tags fühlt sie sich von Soldaten und Scharfschützen verfolgt, Realität und Traum verwischen. Von ihrer Familie zieht sich Gyeongha immer mehr zurück, verkriecht sich, isst kaum noch. Ihr Leben fängt an „sich aufzulösen wie ein Stück Würfelzucker in einem Glas Wasser“.

Von allen entfremdet, weiß sie nicht, an wen sie ihren Abschiedsbrief richten soll, den sie Tag um Tag neu aufsetzt. Doch wer auch immer es sein wird, sie will ihm oder ihr keine Bürde sein. Und so steht Gyeongha auf, sammelt Müll ein, bringt ihn auf die Straße – und tritt ins Licht. Und zurück ins Leben. „So bin ich dem Tod entwischt. Wie ein Komet, der drohte mit der Erde zu kollidieren und diese dann um wenige Grad Abweichung verfehlt.“

„Unmöglicher Abschied“ heißt der neue Roman von Han Kang, Trägerin des Literaturnobelpreises von 2024, die 2016 weltweit mit „Die Vegetarierin“ bekannt wurde. In eine Schublade stecken lässt sich Han Kang kaum. Mal sind es historische Fakten, denen sie sich widmet („Menschenwerk“), mal gesellschaftliche Normen („Die Vegetarierin“, „Deine kalten Hände“), mal Trauer („Weiß“), mal Verlust und Selbstermächtigung („Griechischstunden“). Gemein ist ihren Romanen die feine, sanfte, poetische Sprache, ganz gleich, wie schwer das Thema ist und wie drastisch sie – auch das ein Merkmal ihrer Bücher – Szenen oder Begebenheiten beschreibt.

Trauer und Aufarbeitung

Das Buch

Han Kang: „Unmöglicher Abschied“. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau Verlag, Berlin 2024, 315 Seiten, 24 Euro

Schwer ist auch das Thema ihres neuen Romans. Es geht um ein Massaker auf der Insel Jeju, Schmerz, Trauer und den Versuch, die Geschichte – auch die der eigenen Familie – aufzuarbeiten, in einer Gesellschaft, die sich dieser Geschichte am liebsten entledigen möchte.

Gyeongha, gerade wieder zurück im Leben, erfährt, dass ihre Freundin Inseon im Krankenhaus liegt. Inseon bittet sie, in ihr Haus auf Jeju zu fahren, um ihren Vogel Ama vor dem Tod zu retten, bevor ihm Essen und Wasser ausgehen. Damit beginnt eine Art Roadmovie. Gyeongha, vielleicht auch froh darüber, ihrer Untätigkeit zu entkommen, fährt direkt zum Flughafen. Auf Jeju gerät sie in einen Schneesturm, nimmt den falschen Bus, verläuft sich in der Dunkelheit. Erst im Morgengrauen findet sie, die Finger und Zehen taub, Inseons Haus. Und den toten Vogel. Und noch etwas: kistenweise Dokumente über das Abschlachten von über 30.000 vermeintlich „Roten“ in den Jahren 1948 und 1949 auf Jeju.

Durchgefroren und übermüdet, mit pochenden Migränekopfschmerzen, durchforstet Gyeongha die Kisten. Wie während ihrer Recherche zu Kwangju verwischen Realität und (Fieber-)Traum. Gyeon­gha erscheint erst der tote Vogel, dann ihre Freundin Inseon. Ist Inseon im Krankenhaus gestorben? „Wenn ihre Seele gekommen ist, mich zu besuchen, bin ich im Leben; ist jedoch sie am Leben, dann bin ich als Seele hier“, fantasiert Gyeon­gha in ihrem Delirium.

Dann lässt sie sich einfach auf die Situation ein. Lässt sich von Inseon – oder vielmehr ihrem Geist – die Geschichte ihrer Familie erzählen, so wie Inseon sie aus Archiven herausgearbeitet hat und was ihr ihre Mutter von ihren Besuchen von Massengräbern und Gefängnissen berichtet hat.

Wie durch eine Kameralinse

Han Kang präsentiert den Le­se­r*in­nen das Thema damit implizit, wie der Blick durch eine Kamera­linse. Die expliziten Bilder, die Han Kang malt, sind andererseits so drastisch, dass man beim Lesen den Schmerz des Mädchens, das die Knochen ihres Bruders zwischen denen tausender anderer Ermordeter in einem Massengrab vermutet, ebenso fühlt wie den des jungen Mannes, dessen Schwester, noch ein Säugling, am Strand erschossen und ins Meer geworfen wurde.

Dann wiederum legt Han Kang leichten, weißen Schnee auf die Geschichte. Auf die Gesichter der Toten. „Perfekt sechseckige“ Schneeflocken mit „zarten Ästchen“ lässt sie zögernd auf den Boden fallen „wie der Nachklang eines Musikstücks … oder wie die Fingerkuppen, die vorsichtig zurückgezogen werden, anstatt jemandes Schulter zu berühren.“

Wegen der Schwere des Romanstoffs habe sie leichte Motive verwenden wollen, „deshalb suchte ich nach Themen wie der Leichtigkeit des Vogels, der Flamme, des Schnees“, erklärte Han Kang dem Magazin Transfuge aus Frankreich, wo „Unmöglicher Abschied“ bereits 2023 erschien. „Der Schnee fällt zwischen Realität und Traum und schafft einen Zwischenraum“, so Han Kang zu Transfuge.

In einem solchen Zwischenraum zwischen Realität und Traum bewegt sich der gesamte Roman. Meisterlich verwebt Han Kang das ­Massaker von Jeju mit einer Geschichte über Freundschaft und Familie, deren Bande den weiblichen Figuren gegenseitig Halt geben. Ob sie sie aber retten, das bleibt im Ungewissen.

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