Roman über Studentenbewegung Italiens: Das Geplätscher aus seinem Mund | ABC-Z
Man soll ja nicht groß über unglückliche Titel bei Übersetzungen klagen. Zum einen hilft es nichts, zum anderen ist es wenig originell, das zu tun. Doch in diesem Fall hätte der deutsche Buchtitel dieses Romans fast verhindert, dass er, nachdem er schon mehr als ein halbes Jahr kaum beachtet in einem Bücherstapel zugebracht hatte, überhaupt gelesen wurde. Was bedauerlich gewesen wäre.
Der Debütroman des italienischen Schriftstellers Enrico Palandri jedenfalls ist durch die auf seinem Cover prangenden Wörter „Lichter auf der Piazza Maggiore“ zwar arg unterverkauft, ansonsten aber nicht bloß in elegantem Tempo übersetzt, sondern zudem eine späte Entdeckung. In Italien erschien das Buch seinerzeit immerhin vor 45 Jahren, jetzt wurde es zum ersten Mal von Esther Hansen ins Deutsche übertragen.
Der Ich-Erzähler heißt wie der Autor Enrico, kommt wie dieser aus Venedig und studiert wie dieser in Bologna. Man schreibt das Jahr 1977, und in der Stadt ist viel los. Die spontane politische Bewegung Movimiento del Settantasette (Bewegung von 77) ist in eine blutige Phase eingetreten, durch Polizeigewalt sterben auf den Straßen Bolognas sogar einige Protestierende.
Enrico Palandri hat diese Zeit direkt miterlebt, er wirkte unter anderem mit an einem Buch über den autonomen Sender Radio Alice, „Fatti nostri“. Die Arbeit am Buch erwähnt der Erzähler-Enrico mehrfach, spricht von anderen Beteiligten wie Carlo und Claudio. Gemeint sein dürften der Physiker und Autor Carlo Rovelli und der Schriftsteller und Drehbuchautor Claudio Piersanti.
Der Autor Enrico Palandri
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Georgia Fiorio
Enrico Palandri: „Lichter auf der Piazza Maggiore“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2024. 224 Seiten, 24 Euro
Diese Personen und einige der Ereignisse kommen bei Palandri vor, doch bloß als Randnotiz. Der Erzähler-Enrico kreist vor allem um seine eigenen Gedanken, und deren Hauptgegenstand ist Anna. Zunächst von fern bewundert, etwa auf der Piazza Maggiore der Stadt, über die Enrico abends und nachts schlendert, dann nach scheuer Annäherung mit ihr befreundet, werden die beiden bald darauf ein Paar. Oder so etwas Ähnliches.
In atemlosem Parlando
Diese und andere Erlebnisse lässt dieser Enrico in seinem atemlosen Parlando Revue passieren. Denn im Buch gibt es mindestens zwei Zeitebenen: die der Handlung der Erzählung im Jahr 1977 und die der Niederschrift zwei Jahre später. Der Erzähler kommentiert die Entstehung dieser Autofiktion gelegentlich, erwähnt die Freunde, denen er das Manuskript vorgelegt und deren Anmerkungen er eingearbeitet habe.
„Boccalone. Storia vera piena di bugie“ nennt sich das Buch im Original, wörtlich: „Quasselstrippe. Eine wahre Geschichte voller Lügen“. Was zum literarischen Verwirrspiel, das Palandri, sehr wohldosiert, mit seinen Lesern treibt, viel besser passt als die eher romantisch anmutenden Lichter, aber genug davon. Erfreulich ist, dass der Roman endlich auf Deutsch vorliegt, und sehr erfreulich ist, dass Esther Hansen ihn mit einem Nachwort versehen hat, in dem sie die „Geschichte hinter der Geschichte“ aufschlüsselt. Ohne die blieben viele Andeutungen unverständlich, die politische Dimension allenfalls zu erahnen.
Eine weitere Dimension schließlich ist der Gesundheitszustand des Erzählers. Dieser streut bei Gelegenheit Begriffe wie „Paranoia“ ein und bekennt gegen Ende des Buchs, wenn man in dieser „Lügengeschichte“ überhaupt von Bekennen sprechen kann: „Ich habe nur über mich selbst geschrieben (auch wenn ich die Differenz zwischen mir und den anderen, die Identität, nicht recht erkennen kann und will)“. Mag es sich in Teilen um eine Wahnwelt handeln, in die man sich mit diesem Buch begibt: Gegen den Strudel, den der Erzähler-Enrico erzeugt, gegen sein Gequassel, das „Geplätscher“ aus seinem Mund, ist Widerstand ziemlich zwecklos.