Roland Kaiser: Der kleinste gemeinsame Kaiser | ABC-Z

Ach, Deutschland. So aufgerieben alle. So latent müde auch vom ständigen Ankeifen. Viele Bürger und Politiker versuchen es immer wieder, aber es bleibt dabei – die Probleme dieses Landes lassen sich nicht wegschreien, wegbeschwichtigen, wegintrigieren. Umso heikler: Schon zum Ende der Ampelregierung wurde evident, dass die politische Mitte weltanschaulich kaum etwas zusammenhält. Für CDU/CSU und SPD deutete sich die Wiederkehr des gleichen Problems früh an, bei der Stromsteuer. Und sie wurde offensichtlich im Fall Brosius-Gersdorf.
Nur eine einzige Person scheint bei Schwarz-Rot derzeit alle zu verbinden, Jens Spahn mit Matthias Miersch, Carsten Linnemann mit Manuela Schwesig, Friedrich Merz mit sämtlichen Mitgliedern der SPD. Es ist der Schlagersänger Roland Kaiser. Carsten Linnemann ließ sich mit seiner bis dahin heimlichen Vorliebe erst für Instagram filmen und dann in der Hauptstadtpresse sehen. Merz und Schwesig wurden strahlend auf Konzerten gesichtet. Matthias Miersch suchte die Nähe zuletzt sogar bei einer Rede im Bundestag. “Frau Weidel, ich will es einfach mal mit Roland Kaiser sagen“, kündigte Miersch an. Und er fuhr fort im Zitat: “… ›Was hat dir dein Herz gestohlen?‹ Wie kann man so eiseskalt, so hasserfüllt als Mensch eine solche Rede halten, wie Sie das eben getan haben?”
Die betörend neutralen Stenografen des Bundestages vermerken im Protokoll, eingerückt und geklammert, “(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Linken – Tino Chrupalla [AfD]: Die war doch ausgezeichnet!)”. Die Brandmauer: ein Gedankenstrich.
Die erweiterte Mitte versammelt sich hinter einem 73-jährigen Schlagersänger. Und wenigstens die Teilmenge der schwarz-roten Koalition sollte das nach der Sommerpause noch viel mehr tun. Ja, sie braucht die Besinnung auf den kleinsten gemeinsamen Kaiser, will sie im drohenden “Zoff-Herbst” (Bild) nicht untergehen. Warum? Weil Roland Kaiser jenes Deutschland verkörpert, von dem es jetzt mehr braucht. Das hat mit seiner interessanten Vorgeschichte genauso zu tun, wie sein Wirken auch eine Botschaft der Hoffnung auf Zukunft in sich trägt.
Zunächst stiftet die politische Kaisertreue jedoch an zur Exegese. Wie viel lieber als über Antigone oder ein siechendes Sonett von siebzehnhundertblumenkohl hätte man sein Deutsch-Abitur geschrieben zur Parallelität zwischen den Texten Roland Kaisers und der politischen Praxis in Berlin. Holen wir das nach, im Eilverfahren! Der natürliche Lebenszyklus einer handelsüblichen Koalition ist komplett im Werk von Roland Kaiser abgebildet. Phase eins: Eine Kleinpartei schleicht geprügelt und gerupft aus den rauchenden Trümmern einer Regierung. Doch da steht schon der strahlende Wahlsieger im Weg und schmettert aus bebender Brust: “Ein Ende kann ein Anfang sein – auch für dich!” Phase zwei: Es wird sondiert, denn “manchmal möchte ich schon mit dir”. Phase drei: Die neue Regierung präsentiert ein Vertragswerk. Noch im Timbre des Wahlkampfes verspricht sie einander wie auch dem Volk: “Alles kann, wenn du es willst, morgen passieren.” Auf die Vokabel “Finanzierungsvorbehalt” wird man sich viel später erst einen Reim machen.
Phase vier und folgende: Es geht schrittweise bergab, unterbrochen von tückischen, weil retardierenden Momenten der Hoffnung. Erst: “Extreme geh’n bei uns ein und aus … und trotzdem lieb ich dich”, dann aber wird nach und nach klar: “Es beginnt die Wirklichkeit, wenn die Träume enden.” Und dann dauert es wie in fast jeder einst guten Beziehung quälend lange, bis das längst erkannte Scheitern sich in Handeln übersetzt. Denn “da sind auch noch Gefühle / Die mich durchfahren wie Züge”. Hoffen lässt sich in dieser vorletzten Phase lediglich, dass auf das unvermeidliche Ende keine Reue folgt, kein “Warum hast du nicht Nein gesagt?”. Und dann, was kommt dann? Na ja, dann kann es natürlich nur heißen: “Ich glaub, es geht schon wieder los!”
Roland Kaiser ist niemand, zu dem man aufblicken muss, aber mit Sicherheit jemand, an dem man sich menschlich ganz gut ausrichten kann. Das eindrücklichste Beispiel würde er nie an die große Glocke hängen, nicht mal an eine kleine. Wahr bleibt es bis heute, dass Kaiser in der für seinen Erfolg seinerzeit wichtigsten Stadt den Mumm hatte, für eine mehr humanistische als politische Überzeugung den Unmut von Massen und damit ziemlich viel zu riskieren. Vor sehr vielen Politikern von Rang, vor fast sämtlichen Schönwetter-Schauspielern und anderen “Lieblingen” aus der Goldene-Henne-Freilandhaltung des MDR stellte sich Roland Kaiser im Januar 2015 in der Pegida-Stadt Dresden bei einer Kundgebung auf die Bühne und riet, sich “vorbehaltlos auf Menschen einzulassen”. Das war kein linksgrüner Anfall eines Sozialdemokraten (Parteimitglied seit 2002), das war kein Heischen um Beifall aus der vermeintlich richtigen Ecke. Das war – wie erfrischend – kein Kalkül, keine PR, kein Abwägen. Da war einfach ein Mann mit Herzensbildung und Charakterstärke, der nicht zur Feigheit neigt. Ein Mann, der weiß, was sich gehört.
Dresden ist auch die Wiege der sogenannten Kaisermania, einer jährlichen Reihe von Sommerkonzerten, zu denen sich jeweils Zehntausende vor und weit neben der Bühne von Roland Kaiser einfinden. Es ist ein zuweilen okkultes Happening. Und wiewohl Roland Kaiser sich öffentlich einst so klar artikulierte, ist der Hype um ihn und die Treue zu ihm in seiner großen Liebe Dresden eher noch größer geworden. Roland Kaiser hat dieser Stadt klar mitgeteilt, was er hässlich findet, ihr deswegen aber nicht die Treue aufgekündigt. Nein, er steht Jahr für Jahr erneut am Flussufer und beschenkt die Stadt mit vollem Einsatz. Zwei von vier Abenden der diesjährigen Kaisermania sind bereits gelaufen, die Elbwiesen sind wieder voll. Sonst drängelten sich die Leute zusätzlich auf der Brücke neben dem Gelände, aber selbst die ist, im Gegensatz zu Kaiser, unter der Schwere der Zeit zusammengebrochen. Ja, Roland Kaiser ist, anders als die Carolabrücke: ein stabiler Typ.
Er ist auch: Leitkultur, Lebenslustverkörperer und Aktivrentner in Anzügen, die für deutsche Verhältnisse fast unverschämt gut sitzen. Während sich in der Öffentlichkeit gerade der nächste ergebnislose Streit zum Renteneintrittsalter aufschäumt, stellt sich der Künstler, Arbeiter und Mensch Roland Kaiser nach Lungentransplantation, Wirbelbrüchen und Achillessehnenriss weiter auf Bühnen und singt. Nicht weil er muss, sondern weil er will. Vor allem übt er da seine Kunst aus – in Dresden sind die Auftritte aber auch eine Erinnerung daran, anständig zu bleiben im Leben. Wirbelbruch und trotzdem da, Roland-Kaiser-Antifa. Man muss so jemanden nicht im Überschwang ans Bundesverfassungsgericht berufen. Aber man wird ja wohl noch dankbar sein dürfen für derartige Unverwüstlichkeit, innerlich wie äußerlich. Der Schlager übrigens, das begreift man anhand des Œuvres von Roland Kaiser besonders gut, war nie das illusorische Versprechen einer heilen Welt. Er ist das illusorische Versprechen einer heilenden Welt, und das ist kein geringer Unterschied. Liebe kann uns retten heißt ein Lied des Kaisers. Darin singt er: “Das Böse hat noch nicht gewonnen.” Wenn das mal keine Nachricht ist!