Roberta Flack: In zehn Stunden zur Ewigkeit | ABC-Z

Im New Yorker Studio der Plattenfirma Atlantic öffnete sich Anfang 1969 für zehn Stunden ein Zeitfenster. Niemand hatte die Räumlichkeiten gebucht – ob Roberta Flack nicht vorbeikommen und etwas aufnehmen wolle? Und ob! Ohrenzeugen berichteten später, die damals noch vollkommen unbekannte Künstlerin habe in dieser Zeit 39 Lieder am Klavier eingespielt und dazu gesungen. Keine einfachen Songs, sondern komplexe Kompositionen. Das vertonte Gedicht Angelitos Negros des venezolanischen Poeten Andrés Eloy Blanco zum Beispiel, arrangiert als Cuban-Jazz-Stück. Außerdem Flacks Variante von Leonard Cohens Hey, That’s No Way To Say Goodbye, aufgenommen als glockenklarer Folksong. Oder eine Version des Gospels I Told Jesus, die im Verlauf ihrer sechs Minuten beinahe zum Stillstand kommt.
Acht dieser 39 Aufnahmen schafften es später auf die erste LP des damals 22 Jahre alten Talents aus Washington, D. C. – First Take nannte Roberta Flack das Album. Auch, weil sie viele der Songs gleich beim ersten Versuch, mit dem first take, im Kasten hatte. Was für ein Talent! Der Soul- und Jazzpionier Les McCann, einer von Flacks Entdeckern, schrieb für die Rückseite der Plattenhülle einen jubilierenden Text: „Ihre Stimme berührte, traf, fesselte und weckte jede Emotion, die ich kannte. Ich lachte, weinte und schrie nach mehr.“ Alle gingen davon aus, dass Roberta Flack mit dem Album zum Star werden würde. Doch dann passierte: so gut wie nichts.
Auftritt Clint Eastwood. Für seinen ersten Film als Regisseur, der in Deutschland im Januar 1972 unter dem Titel Sadistico ins Kino kommen sollte, war der Schauspieler auf der Suche nach einem Song, der einer wortlosen und durchaus expliziten Szene als Soundtrack dienen könnte. Zufällig hörte er im Radio einen Song von Roberta Flacks wenig erfolgreichem First Take: ihre Version von The First Time Ever I Saw Your Face. Der irische Folkmusiker Ewan MacColl hatte das Stück 1957 ursprünglich für die Sängerin Peggy Seeger geschrieben, mit der er damals eine heimliche Affäre hatte. Flack nahm dem Song alle Hintergedanken. Übrig blieben Romantik und Sexyness. Eine Aufnahme, wie geschaffen für die Bilder, die Eastwood im Sinn hatte.
Roberta Flack ging davon aus, dass der Regisseur nur einige Sekunden ihres Stücks nutzen würde. Eastwood aber verwendete den ganzen Song und zahlte für die Rechte daran angeblich 2.000 US-Dollar. Eine gute Investition für Eastwood, ein noch besseres Geschäft für Flack: Fast drei Jahre nach der Veröffentlichung von First Take brachte Atlantic The First Time Ever I Saw Your Face zum Kinostart von Sadistico erneut als Single heraus. Die Platte wurde ein großer Hit, stand wochenlang auf Platz eins der US-Charts, einen Grammy erhielt Flack auch dafür. Der Begriff des sleepers war geboren – einer Aufnahme, die viele Jahre lang fast ungehört vor sich hindämmert, bis sie doch noch zum Hit wird.
Eine junge Schwarze Künstlerin landete also einen Megahit mit ihrer Version eines Irish-Folk-Songs, der in einem Film von Clint Eastwood eingesetzt wurde. Schon darin steckt ein Hinweis auf die Grenzenlosigkeit von Roberta Flacks Musik. 1937 wurde sie in North Carolina geboren, wo ihre Mutter einen Kirchenchor an der Orgel unterstützte. Flack war schon als junges Mädchen bei Proben und Gottesdiensten dabei. Mit neun lernte sie Klavier, mit 15 erhielt sie ein Stipendium für eine Musikhochschule. Erstes Karriereziel: Opernsängerin.