Roadmovie in Marokko: Sie wollen bloß den Bass | ABC-Z

Steine mögen leblos sein. Form- oder farblos sind sie nicht: In der marokkanischen Wüste gibt es rosettenförmige Sandrosen, es gibt das orangefarbene Mineral Vanadinit, Quarzgeoden, Sedimentgesteine, die das ringartige „Auge der Sahara“ bilden, das blaue Azurit und weitere Minerale. Und selbst wenn Steine nicht eigenständig klingen, eignen sie sich hervorragend als Resonanzkörper.
Die ersten Minuten von „Sirāt“ verbinden Felsen und Formen mit Sound: Hände, sonnenverbrannt, beige und rot wie die Quarze und Sandrosen drumherum, bauen in einer Wüste megalomane Boxen auf. Fast scheinen die Lautsprecher aus Steinbrüchen der Umgebung zu stammen – sie sind ebenso mächtig, alt, verkratzt und – zunächst – leblos wie die schweigenden Felsen. Irgendwann ragt ein imposantes Fort aus Boxen in den Abendhimmel. Audio-Kabelschlangen werden in Phonoeingänge gesteckt, es knackt. Schließlich startet er, der Sound, der die Wüste zum Leben erweckt – und mit seinen monotonen, jedoch nie langweiligen Rave-Rhythmen beginnt auch der Tanz.
„Sirāt“, mit dem der französische Regisseur und Drehbuchautor Óliver Laxe beim diesjährigen Filmfestival von Cannes den „Preis der Jury“ (ex aequo mit „In die Sonne schauen“) gewann, während der Komponist und DJ Kangding Ray mit dem „Cannes Soundtrack Award“ ausgezeichnet wurde, zeigt zu Beginn Merkmale eines Tanzfilms. Einer, in dem es nicht um Anmut oder Grazie, um trainierte Körper und Ästhetik geht. Sondern, wenn man so will, um das Gegenteil: Die Menschen, die beim Rave in der Wüste den sandigen Boden aufwirbeln, die gleichsam in die Boxen hineinkriechen, um sich ganz in der Musik zu verlieren, deren Gesichter und tätowierte Körper nach Schweiß, Staub, zu vielen Drogen und zu viel Sonne aussehen, tanzen für sich selbst.
Vielleicht, so lässt es der enigmatische Regisseur im Interview anklingen, um etwas zu verarbeiten: „Es geht um Wunden“, sagt er, „wir haben mit dem Tod experimentiert.“
„Sirāt“. Regie: Óliver Laxe. Mit Sergi López, Bruno Núñez u. a. Frankreich/Spanien 2025, 120 Min.
Die Story, die Laxe seinem Sound-Bild-Erlebnis mitgibt, ist eine Suche: Durch die ohrenbetäubenden Beats und den Pulk der entrückten Tänzer:innen schieben sich der stämmige, knapp 60-jährige Luis (Sergi López) und sein 12-jähriger Sohn Esteban (Bruno Núñez) wie zwei deplatzierte Beobachter aus einer anderen Welt. Luis und Esteban haben jemanden verloren, oder vielleicht auch nicht: Luis’ Tochter, Estebans Schwester Mar ist verschwunden. Ihr letzter bekannter Aufenthaltsort war ein Rave in Marokko. Mit Fotos versucht die ausgedünnte Familie inklusive (ebenfalls in Cannes ausgezeichnetem) Hund, jemanden zu finden, der Mar gesehen hat.
Dabei stoßen Luis und Esteban auf eine aus zwei Frauen und drei Männern bestehende (von echten Raver:innen gespielte) Gruppe, die des Spanischen mächtig sind und von einem weiteren, heimlichen Rave irgendwo tief in der Wüste erzählen. Kurz darauf tauchen bewaffnete Soldaten mit der Hiobsbotschaft eines ominösen Kriegsausbruchs auf, die den Rave beenden und die Europäer:innen unter den Gästen auffordern, umgehend in ihre Länder zurückzukehren.
Autark und ohne Konventionen
Die Ravertruppe bricht mit ihren beiden Schwerlasttransportern jedoch aus der wartenden Autoschlange aus und rattert gen Felsenlandschaft. Kurzerhand folgt Luis ihnen mit seinem wüstenuntauglichen Familienauto. Zusammen mit Sohn und Hund beginnt für ihn hier die Reise – zeitgleich entwickelt sich der Film zu einem Roadmovie, bei dem das genau Ziel im Dunkeln bleibt.
Statt mit Landkarten seine Tour über gut befahrbare Straßen zu planen, wird der weder abenteuerlustige noch ravebegeisterte noch esoterische Luis nun mit der radikal zenbuddhistischen, freien Lebensweise der Raver:innen konfrontiert: Ihnen geht es nicht um das Finden, sondern um den Weg; nicht um die Realität, sondern um den Sound. Die Gruppe Menschen, die in Luis’ ehemaligem Leben als Außenseiter:innen abqualifiziert worden wären – sie leben autark und ohne Konventionen, zwei von ihnen fehlen Gliedmaßen – werden zu Luis’ und Estebans neuer, durchaus funktionaler (Patchwork-)Familie.
Den mit Kameramann Mauro Herce entstandenen Bildern geben die Bewegung, das ständige Fahren des kriegserprobten M911, eines ehemaligen US-Army-Trucks, und des mächtigen, staubigen Wohnmobils extreme Dynamik. Zusammen mit Luis’ hinterhereiernder, zunehmend dreckiger Familienkiste bilden die Fahrzeuge so selbst eine sich durch die Wüste fräsende Kleinfamilie.
Neben dem auf fahrenden Autos angesiedelten Legacy-Sequel „Mad Max – Fury Road“ von 2015 und Steven Spielbergs Debüt-Fernsehfilm „Duell“ von 1971, in dem ein Autofahrer in der kalifornischen Wüste von einem Tanklastzug bedrängt wird, erinnert „Sirāt“ bildlich zuweilen an die Fahrszenen des von William Friedkin 1977 inszenierten Thrillers „Sorcerer“ („Atemlos vor Angst“), in dem zwei alte Trucks, darunter ein dem M911 zum Verwechseln ähnlicher M211, Nitroglyzerin transportieren müssen, um einen Brand durch Sprengung zu löschen. Friedkin hatte damals als passend-tranceartigen Soundtrack unter anderem Tangerine Dream und Keith Jarrett gewählt.
Wie die Bilder und Klänge im fertigen Werk korrelieren, ist meisterhaft
Und auch „Sirāt“ wird durch den Soundtrack von Kangding Ray vom faszinierenden Erlebnis zum epochalen Trip. Laxe berichtet, dass er die Sounds des französischen, in Berlin lebenden DJs bereits im Kopf hatte, als er das Drehbuch schrieb. Wie die Bilder und Klänge im fertigen Werk korrelieren, ist meisterhaft. So scheinen zuweilen nicht nur die emotionalen Zustände, sondern auch jedes Fahrzeug auf der Soundebene eigene Klänge zu generieren, je nach Bildausschnitt und Fahrweise finden sie zusammen, donnern ein Stück gemeinsam, und entfernen sich wieder.
Der Klang erzählt die Geschichte vom Verlust
Kangding Ray erschafft tief grummelnde, aus den Eingeweiden des Planeten kommende Töne, seine Beats sind hypnotisch und nehmen sich – eine Entscheidung, die sämtliche Gewerke gemeinsam getroffen haben – die Zeit, die sie brauchen, um die Dramaturgie zu erschaffen.
Der Sound in diesem Film bildet damit ein ebenso wichtiges, vielleicht gar ein emotionaleres Narrativ als die Story. Denn auch wenn die Bilder in ihrer kargen Wüstenopulenz ebenfalls eher an das Unbewusste als an das Reale appellieren, die oft leeren Dialoge authentisch sind, und Szenen wie ein von einem der Raver spontan gesungenes Antikriegslied von Boris Vian Hinweise auf Vergangenheit und Motive der Handelnden geben, erzählt der Klang, gleichzeitig abstrakt und universal, die Geschichte vom Verlust doch am besten.
Und dass es um Verlust geht, muss als Information reichen: Bei „Sirāt“ empfiehlt es sich wirklich, genaue Inhaltsangaben zu ignorieren, um sich von den Wendepunkten überraschen zu lassen. Denn diese sind zwar erschreckend, aber passen zur Radikalität des Films, und zur vom Regisseur geäußerten, vagen Spiritualität. Der Tod, das sollte man schon wissen, wird tatsächlich auf die eine oder andere Art erforscht. Und mitten in der Wüste steht eine verlassene Hütte, in der auf einem Fernseher Bilder des so genannten Tawāf flimmern, bei dem während der Pilgerfahrt Haddsch ein Gebäude in Mekka siebenmal umkreist werden muss.
Der Begriff Sirāt bezeichnet im Arabischen einen schmalen, über die Hölle führenden Pfad, den es auf dem Weg zum Paradies zu überqueren gilt. Auch im Film stehen die Beteiligten am Ende vor der Aufgabe, durch eine mögliche Hölle zu gehen. Ob auf der anderen Seite das Paradies wartet, ist allerdings Ansichtssache.