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Riesenkaninchen testen Möbelneuheiten | FAZ | ABC-Z






Eines der schönsten Dinge am Beruf des Journalisten: dass man täglich dazulernt. Viel Herzerwärmendes, viel Lustiges, aber auch viel Schreckliches ist dabei. Manche Informationen sind für den eigenen Alltag so unerheblich (molekulare Kardiologie!), dass man sie nach Erscheinen seines Artikels gleich wieder vergisst. Andere Informationen werden als potentielle Icebreaker auf Partys identifiziert und auf hoffentlich ewig im Gehirn abgespeichert. Und dann sind da diese Momente, in denen Sie sich denken: Das hier, das ist so unglaublich, dass ich eines Tages im Seniorenheim alle mit dieser Geschichte nerven werde. Vergnügt im Schaukelstuhl auf der Veranda wippend, in der Hoffnung, dass meinem Gegenüber vor Staunen das Gebiss aus dem Mund fällt.




Erinnert an eine Leiter im Heustock, mit einem Eingriff zum Tragen: Auf dem Hocker VNA Bar von Florian Hauswirth (Zeitraum) zeigt Knut seine weiße Blume.





Mit floralen Ornamenten, die aus Polyethylenfasern oder Abaka (auch als Manilahanf bekannt) geflochten sind: Riesenkaninchenmama Lilli macht es sich mit ihren beiden Jüngsten, Peter und Heidi, auf dem Outdoor-Sessel Crinoline von Patricia Urquiola (B&B Italia) bequem.





Mit einer Analogie zum Automobildesign, übertragen auf das Material Holz: Heidi erkundet den Drehsessel S 845 vom Designstudio Lepper Schmidt Sommerlade (Thonet).












Mal spricht man mit einem ukrainischen Model darüber, wie die ersten Bomben auf ihre Heimatstadt fielen. Ein kurdischer Anwalt erzählt, wie er vor politischer Verfolgung aus der Türkei nach Europa floh. Oder eine frühere Bewohnerin der DDR verrät einem aus erster Hand, wie das eigentlich damals so war auf den Montagsdemonstrationen. Tauscht man sich mit Kollegen aus, nennen die oft genau diese Nähe zu Menschen als das, was sie zum Journalismus brachte. Das hart erarbeitete Vertrauen, das Gesprächspartner einem schenken; die gedankliche Auslese geeigneter Zitate im Zug zurück nach Frankfurt; die Vorfreude nach einem gelungenen Interview, die Geschichte zu Papier zu bringen.







Eine Hommage an die Siebzigerjahre auf eckigen Beinen und mit weichen Polstern: Sessel Emmi von Hannes Peer (Minotti) scheint wie gemacht für das halbstarke Dreigespann Johanna, Knut und Oskar.






Erfahrungsgemäß ist es aber nicht nur der Kontakt zu Menschen, der begeistert – sondern auch der zu Tieren. Wussten Sie zum Beispiel, dass sich an den Ohren eines Kaninchens ablesen lässt, wie es ihm gerade geht? Ragen sie gen Himmel, fühlt sich das Tier wohl. Legt es hingegen die Löffel an, kann das auf Angst und Unsicherheit deuten. Dagegen helfen verbale Liebkosungen sowie Streicheleinheiten, sehr effektiv ist das Kraulen hinter den Ohren.




Eine leuchtende Säule, die sich aus mundgeblasenen Glasmodulen zusammenfügt: Peter lässt sich von der Standleuchte Noctambule von Konstantin Grcic (Flos) ins rechte Licht rücken.





Geformt wie eine Glocke, aus mundgeblasenem Glas mit aufgesetztem Metallkörper oder (wie hier) ganz aus Naturstein: Fast zu groß ist Little Joe auch für den Tisch Bell Table von Sebastian Herkner (Classicon).





Ein Bürostuhl, der auch an Theken und Bars stehen kann: Peter will auf dem Hochstuhl D1 von Stefan Diez (Wagner) noch höher hinaus.








Lernen kann man solche Tricks von André Weseloh, mit dessen Hilfe und mit dessen Tieren die hier abgedruckte Fotostrecke entstanden ist. Vor zwei Jahren besuchten wir ihn nach wiederholter Zusammenarbeit zu Hause in Stade nahe Hamburg. Zu Hause, das ist Weselohs Haus, aber im Grunde genommen ein ganzer Hof an unterschiedlichen Tierarten: Stinktiere hausen dort etwa, Schlangen (liegen sie einem auf den Schultern, fühlt man sich ein bisschen so cool wie Britney Spears bei ihrer legendären Performance von „Slave 4 U“ bei den MTV Video Music Awards) und exotische Vögel wie Aras, die in einer großzügigen Voliere leben. Manche seiner Tiere sind richtige Stars, etwa der freche und inzwischen leider verstorbene Kakadu Sammy, der in Musikvideos bekannter Rapper auftrat und der es sich damals – wie es sich für eine Filmdiva gehört – mit großer Selbstverständlichkeit auf unseren Schultern bequem machte. Manchmal nimmt Weseloh seine Tiere auch mit ins Seniorenheim. Demente Menschen zum Beispiel freuen sich sehr über den besonderen Besuch.







Mit Deckplatte aus Marmor, Leder oder Holz sowie zwei Schubladen: Knut zählt zu den Halbstarken unter unseren sieben Riesenkaninchen und spitzt im Nachttisch Onda von Paolo Piva (Poliform) seine Ohren.






Oder seine Tiere werden zu Models für Shootings des F.A.Z.-Magazins. Nach Stinktier und Stachelschwein, Reptilien und Insekten, die von Licht angezogen werden, hieß es bei diesem Mal: Kaninchen! Dafür fuhren wir nach Köln, erst zum Design-Showroom Pesch interieurs, später dann zur Design Post. Gar nicht so einfach für Weseloh, ein Hotel zu finden, das eine eigene Tiefgarage besitzt, um die Kaninchen in den Stunden vorab sicher und komfortabel unterzubringen. Nachdem auch das gemeistert war, blieb nur noch die Vorfreude. Aufgeregt waren vor allem die Autorin dieses Texts und unsere Bildredakteurin Jana Redweik: Ob wir die Kaninchen auch streicheln können? Sie sogar in den Armen halten dürfen?







Ein Servierwagen oder Beistelltisch auf vier großen Speichenrädern, der an das Bauhaus erinnern soll: Little Joe macht sich an Lilli im Konsolwagen M4R von Tecta Design (Tecta) ran.






Wir durften. Aber gäbe es ein Kaninchen-Pendant zu Geburtsvorbereitungskursen, womöglich hätte ich einen solchen vor unserem großen Shooting besucht. Denn ein Kaninchen zu tragen, und sei es noch so klein, will gelernt sein: am besten alle vier Pfoten auf den eigenen Körper setzen, damit es auch ordentlichen Halt hat. Bei einem Riesen wie Little Joe, dem ältesten Kaninchen der siebenköpfigen Truppe, wagt man jedoch nur das Bewundern aus sicherem Abstand. Mehr als zehn Kilogramm schwer, leicht griesgrämiger Blick, einschüchternde Ausstrahlung.



Ein fast 100 Jahre alter Archetyp der Moderne, in neuen Farben und aus neuen recycelten Materialien: Mit seinen gut zehn Kilogramm füllt Rammler Little Joe den Bauhausklassiker 2 Fauteuil Grand Confort (ehemals LC 2) von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand (Cassina) aus.






Erst an diesem Koloss wird deutlich, warum die Rasse Deutscher Riese, die ursprünglich als Masttierzüchtung gedacht war, sich ihren Namen redlich verdient hat. Allein die Ohren dieser Art können bis zu 17 Zentimeter lang werden. Ein majestätisches Tier, dieser Little Joe, der gar nicht so „little“ ist; in seiner Welt womöglich der König und Anführer seines Rudels. Während des Shootings räkelt er sich vor der Kamera, als würde er die Berühmtheit des Hasen von Albrecht Dürer erlangen wollen. Ein Hase jedoch, so erklärt es Weseloh, ist nicht zu zähmen und kann daher nur in freier Wildbahn leben.

Wie Zwerge wirken dagegen die acht Wochen alten Kaninchen Heidi und Peter. Trotz ihres jungen Alters sind auch sie richtige Profis vor der Kamera und haben – wie für die Rasse üblich – ein gesundes Selbstbewusstsein. Während Mutter Lilli am Gitter der gemeinsamen Transportbox weilt, als würde sie erspähen wollen, was ihre Kleinen da draußen vor der Kamera treiben, macht es sich Peter in den Armen von Jana Redweik gemütlich, die früher selbst Kaninchen hielt – Profi trifft auf Profi.




Mit einer Bespannung, die aus einem vinylbeschichteten Polyestergarn oder Acrylfasern besteht: Fast ein wenig verloren wirkt die kleine Heidi auf dem großen Armlehnstuhl Saranac von Mark Gabbertas (Gloster).





Eine Design-Ikone aus den Sechzigern, die mit vertikalen Stahldrahtstäben verschweißt ist: Auf dem samtigen Stoff des Armlehnstuhls Platner von Warren Platner (Knoll International) fühlt sich Little Joe augenscheinlich wohl.





Aus 29 Lagen Papier, die mit natürlichem Harz verleimt sind: Für Little Joe ist die Sitzschale des Stuhls Catifa CartA vom Designstudio Lievore Altherr Molina (Arper) beinahe zu klein.








Das Selbstbewusstsein dieser Kaninchenrasse ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Deutsche Riese, anders als kleinere Kaninchen, weniger Fressfeinde hat. Wenn ihm etwas nicht passt, greift er eher an als zu fliehen. Dieser Charakterzug bewirkt zugleich, dass viele Riesen leicht zähmbar sind, auf ihren Namen hören und einen engen Bezug zu ihren Haltern aufbauen. Auch André Weseloh wiegt seine Kaninchen in den Armen wie Neugeborene. Gut für unseren Fotografen Frank Röth: Die Aufnahmen waren schneller im Kasten als die des Shootings vor zwei Jahren, bei dem sich ein Chamäleon nicht wie gewünscht an unserer Leuchte festklammerte und stattdessen mehrmals wie ein Feuerwehrmann die Stange hinunterrutschte.




Wie ein Kreisel aus Glas, der Licht und Schatten spendet: Unter dem Schirm der Tischleuchte Trottola von Federico Peri (Brokis) hat Heidi noch Platz.





Wie eine Skulptur aus Holz, die zu einer Kaffeepause einlädt: Johanna wagt sich unter dem Bistrotisch Enso vom Arco-Design-Studio (Arco) hervor.








Möglicherweise war es das erste Fotoshooting dieses Magazins, aber auch dieser Zeitung, bei dem Kaninchen-Nachwuchs gezeugt wurde – denn Little Joe konnte einfach nicht die Pfoten von der zugegeben sehr hübschen Kaninchendame Lilli lassen. Zuvor hatte er das auf dem Konsolwagen von Tecta sitzende Weibchen zu bezirzen versucht, indem er um das Möbel hoppelte und sie immer wieder interessiert beschnupperte. Die Hasenartigen gelten eben nicht umsonst als Symbole für Fruchtbarkeit. Vielleicht ist es etwas indiskret, aber von dem Spektakel haben wir ganz schamlos Handy-Videos für unsere Instagram-Story aufgenommen. Unser schwarzer Fotohintergrund aus Stoff, den Frank Röth am Abend zuvor gebügelt hatte, der ist jetzt voll mit Kaninchenhaaren.

Übrigens: Laien würden sagen, unsere Kaninchen sind orangefarben, Kenner sprechen allerdings von der Farbgebung gelb. Wir nennen sie liebevoll Goldhasen. Wundern Sie sich also nicht, falls Ihnen auf einer Party eine Person begegnet, die erstaunlich viel über Kaninchen zu berichten weiß und Sie ungefragt an diesem Wissen teilhaben lässt. Womöglich ist es ein Tierarzt, der seine Arbeit einfach nicht ruhen lassen kann. Oder die Person arbeitet im Journalismus. Wenn das nicht der Brüller im Seniorenheim wird.


Fotografie: Frank Röth
Foto-Assistenz: Jana Redweik
Autoren: Johanna Christner und Peter-Philipp Schmitt
Unterstützung: Bastian Bieker
Fotografiert am 11. September bei Pesch interieurs und der Design Post in Köln.






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