Kultur

Leonid Maximenkow über Schostakowitsch: War er ein Stalinist? | ABC-Z

Im laufenden Schostakowitsch-Gedenkjahr hat der russische Historiker und Archivarius Leonid Maximenkow eine politische Biographie des Komponisten vorgelegt, die ihn, dessen Musik Gräuel, Grandezza und Gewalterfahrung des 20. Jahrhunderts wie wohl keine andere nacherlebbar macht, als treuen Stalinisten und opportunistischen Angehörigen der Nomenklatura-Elite zeichnet und sein Image als geheimen Dissidenten, Märtyrer des Regimes und inneren Emigranten demontieren will. Maximenkows Buch passt zu den jüngsten Bemühungen kriegsbegeisterter Schriftsteller um Sachar Prilepin, neben literarischen Klassikern wie Alexander Puschkin, Michail Lermontow und Leo Tolstoi auch den emigrierten Regimekritiker Joseph Brodsky als „Imperialisten“ für den Staat zu vereinnahmen.

Maximenkow, der einen Wissenschaftlertypus verkörpert, den Fachleute „Forscher in Zivil“ nennen, steht der Musik fern. Er hat sich durch unsachliche Schmähungen von Dokumentenveröffentlichungen von Memorial oder dem Deutschen Historischen Institut sowie russischer Kollegen hervorgetan, die mit „ausländischen Agenten“ oder „unerwünschten Organisationen“ kooperiert hatten.

Der Autor nennt sein 450-Seiten-Opus, das im patriotisch-konservativen Verlag „Wetsche“ herauskam, „Schostakowitsch, der Marschall der sowjetischen Musik“, als sei der Künstler ein Armeekommandeur. Der Text stilisiert ihn zum Investitionsobjekt der Sowjetmacht, dessen (angesichts der Planwirtschaft rein virtuelle) „Aktienkurse“ schwankten, aber dessen privilegierte Ausstattung am Ende mehr als aufwogen. Von Schostakowitschs Musik erwähnt er nur Werknummern und Auszeichnungen, verliert über Gehalt und Rang der Stücke kein Wort. Was ihm imponiert, ist der erfolgreiche, freilich dornige, bisweilen lebensgefährliche, also wahrhaft heldenhafte Karriereweg eines Regimetreuen zum „Sieg“ – sogar im antikommunistischen Westen.

Maximenkow zitiert und publiziert eine Fülle erschütternder Dokumente, von kollektiven Schmähbriefen gegen Schauprozessopfer, die Schostakowitsch mitunterzeichnete, über seinen Reuebrief nach dem Verbot seiner Oper „Die Lady Macbeth von Mzensk“ bis zu seinen Lobeshymnen auf Stalin einschließlich des pathetischen Nekrologs, aber auch ein Konzertprogramm des NKWD-Ensem­bles, für das er wie viele Kollegen notgedrungen komponierte. Zugleich nimmt er sich das Recht, regimekritische oder verzweifelte Äußerungen Schostakowitschs, wie sie Gesprächspartner, etwa Isaak Glikman oder Solomon Wolkow, überlieferten, als bloße Mystifikation abzutun.

Der Autor bewundert die Wandelbarkeit von Russlands Machtvertikale und zumal Stalin, den er als Architekten der Pax Sovietica anspricht, dessen Terrorregime er zugleich illusionslos und zynisch schildert. Dass Schostakowitsch zweimal zu Kulturträgerreisen an Gulag-Kanalbaustellen eingeteilt wurde und sich für dort per Zwangsarbeit „umgeschmiedete“ Komponisten einsetzte, nimmt er als Zeichen seiner Privilegiertheit, aber auch „Vielgesichtigkeit“.

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In der antimodernistischen Prawda-Invektive gegen ihn will er eine Kritik seiner Filmmusik sehen, die Stalin schätzte – was er, die Gefährdung Schostakowitschs während des Terrors herunterspielend, als seine Lebensversicherung bezeichnet. Und obwohl er die ästhetische Doktrin des sozialistischen Realismus als „bürokratischen Romantismus“ verspottet, scheint er dem offiziösen Geschmack selbst anzuhängen. Jedenfalls zeigt sich der in künstlerischen Fragen sonst gleichgültige Autor ein einziges Mal über seinen Helden aufrichtig entsetzt: als der Mussorgski-Verehrer Schostakowitsch um 1960 die „Kitsch“-Folklore des hochstalinistischen Pjatnizki-Ensembles attackiert.

Maximenkow, der Schostakowitschs künstlerische Widerstandsleistung und seine persönliche Tragödie entwerten und vergessen machen will, erlaubt sich böse Unterstellungen gegen ihn, wie ein klassischer Denunziant in der Wohnungsfrage. Es seien keine Gewissensbisse Schostakowitschs darüber überliefert, dass ihm 1938 in Leningrad das Appartement eines Säuberungsopfers zugewiesen wurde, merkt er an, und seine Passivität bei seiner Wahl zum Stadtsowjetdeputierten 1947 erklärt er beweisfrei mit seiner Absorption vom Umzug aus einer Drei- in eine Fünfzimmerwohnung. Zugleich ist er für Schostakowitschs Sarkasmus taub. Dass dieser 1931 dem proletarischen Schriftsteller und Denunzianten Wladimir Kirschon, der vorschlug, Kollegen „an die Wand zu stellen“, großartigen Scharfsinn bescheinigte, tadelt er als leichtsinnige Witzelei; die an Vladimir Sorokin erinnernden rhetorischen Hyperbeln im Nachruf auf den „Vater, Lehrer und allerengsten Freund“ Stalin 1953 nennt er angemessen.

Maximenkow exerziert die feindliche Übernahme der Hochkultur durch den Staat vor, der auf deren Prestigewert Anspruch erhebt, während er auf deren menschlich-künstlerische Substanz pfeift. Triumphierend weist er darauf hin, dass auch der amerikanische FBI, der Schostakowitsch bei dessen Reisen in den Vereinigten Staaten überprüfte, keine Hinweise auf dessen verstecktes Dissidententum oder Geheimbotschaften in dessen Musik fand – dass diese Reisen aber anderen Sowjetkomponisten den Weg bereiteten. Die Augenbinde, die Russlands Rechtssystem der Justitia abgerissen hat, soll jetzt offenbar den Musen angelegt werden.

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