Geopolitik

Richterwahl: Sommer des Misstrauens | DIE ZEIT | ABC-Z

Zumindest in einer Sache sind sich Union und SPD in diesen Tagen einig: in dem Bedürfnis nach Ruhe. “Gut, dass wir jetzt durchschnaufen können”, sagt ein Vertreter aus der Spitze der Unionsfraktion. “Gut, dass jetzt Urlaub ist”, heißt es aus der SPD-Fraktion. Die Koalition, noch keine hundert Tage im Amt, lechzt nach einer Pause.  

Es ist gar nicht lange her, da wollte Bundeskanzler Friedrich Merz die sitzungsfreie Zeit des Bundestags im Juli und August eindampfen, um schneller mehr Gesetze durch das Parlament zu bringen. Jetzt sind alle Beteiligten froh, dass die Sommerpause ohne Verzögerung da ist.  

Es ist – nicht nur, aber vor allem – die missglückte Wahl von drei neuen Verfassungsrichtern vor zwei Wochen, die Spuren hinterlassen hat: Das schwarz-rote Bündnis ist seither angezählt und geht nun in einem Zustand des Missmuts, ja womöglich des Misstrauens in den Sommer. Öffentlich ausgetragener Streit prägte das Bild zuletzt – ausgerechnet, nachdem sie doch alles anders machen wollte als die notorisch zerstrittene Ampel. Die SPD fordert eine Kurskorrektur in der Israelpolitik, die Union drängt auf schnellere, tiefere Reformen des Sozialstaats, auch bei der Schuldenbremse und der Position zu einem möglichen AfD-Verbot rückt man auseinander.  

Schwer lastet zudem auf der Koalition, wie man denn das Dilemma um die Kandidatur der von der SPD vorgeschlagenen und von der Unionsfraktion vereitelten Richterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf auflösen will. Spricht man mit Verantwortlichen, rechnet kaum noch jemand damit, dass eine Lösung vor Ende August gefunden wird, dem Ende der Sommerpause des Bundestags. 

Nach dem “guten Start” der Regierung spüre man “eine Belastung durch den Streit”, räumt der erste parlamentarische Geschäftsführer der Union, Steffen Bilger, ein. “Ich kann nachvollziehen, dass die Richterwahl für Verstimmungen bei der SPD gesorgt hat”, sagt der CDU-Politiker der ZEIT. “Trotzdem tauschen wir uns weiter vertrauensvoll auf allen Ebenen aus und werden die Probleme lösen”, versichert er.

“Das mache ich beim nächsten Mal genauso”

Vom vertrauensvollen Austausch sei man weit entfernt, heißt es an anderer Stelle. In manchen Gesprächsformaten habe gar Ratlosigkeit geherrscht, wird geraunt. “Alles in allem sehr schwierig”, resümiert ein Christdemokrat die verfahrene Lage hinter vorgehaltener Hand. Auch in den Reihen der SPD wird betont, wie heikel die Situation doch sei. Auf diese Union könne man sich nicht verlassen, klagten zuletzt viele Sozialdemokraten, bis hin in die Fraktionsspitze. Dabei rühmen sich die Genossen sonst so gerne dafür, in Regierungsverantwortung Disziplin zu zeigen, auch wenn es unangenehm wird.  

Kurz vor der vergeigten Richterwahl hatte die SPD im Bundestag für Verschärfungen in der Migrationspolitik gestimmt, die der Union wichtig waren – und vielen in der SPD-Linken richtig schwerfielen. “Unter Schmerzen”, sagt eine SPD-Linke, und das sei in der Erwartung passiert, dass die Union im Gegenzug für sie schwer verdauliche SPD-Projekte ebenfalls mittragen würde. Dieser Glaube wurde mit den hässlichen Attacken auf Frauke Brosius-Gersdorf enttäuscht. Bitter stieß auch die Einordnung von Merz auf: Die Abgeordneten dürften nun mal in Gewissensfragen frei entscheiden. “Gut, das merke ich mir”, so die SPD-Linke. “Das mache ich beim nächsten Mal genauso.”

Ein Ventil für den Unmut

Nun aber, da die Sommerpause begonnen hat, wissen vor allem die Sozialdemokraten nicht, wie sie kommunikativ mit der Lage umgehen sollen. Die Führung ist im offenen Dissens in den Urlaub gezogen. Parteichef und Vizekanzler Lars Klingbeil teilte mit, die SPD werde an ihrer Kandidatin Brosius-Gersdorf festhalten und fordert Merz auf, die Wahl erneut anzusetzen. Zugleich hat die Union ihrerseits dem Koalitionspartner deutlich gemacht, dass die Richterin bei ihnen keine Mehrheit finden werde. Bei der SPD suchen sich Unzufriedenheit und Selbstbehauptungswillen seitdem ihr Ventil.

Bei der Union hingegen ist die Klage zu vernehmen, seit dem SPD-Parteitag vor einem Monat, auf dem die Delegierten Klingbeil abstraften, sei der Umgang mit den Genossen deutlich schwieriger geworden.

Der Kanzler selbst suchte seinen Weg raus aus dem Dilemma, indem er den Eindruck zu erwecken versuchte, das Problem habe nur am Rande mit ihm zu tun: Auf seiner Sommerpressekonferenz betonte Merz, die Angelegenheit sei eine Sache der Fraktion, er werde sich als einfacher Abgeordneter einbringen. Immerhin Merz’ Kanzleramtsminister bewegte sich rhetorisch ein klein wenig auf die SPD zu: “Sie ist in jedem Fall eine fachlich hoch versierte Juristin. Das ist überhaupt gar keine Frage”, sagte Thorsten Frei in der Sendung von Maybrit Illner mit Blick auf Brosius-Gersdorf. “Und es ist klar, dass man bei Verfassungsrichterwahlen nicht mit jedem einzelnen Thema einverstanden sein muss, das eine Kandidatin oder ein Kandidat hat.”

Bloß: Die Richterwahl entscheidet nicht die Regierung, sondern die Abgeordneten im Bundestag, und an ihnen ist es jetzt auch, Kompromisse zu finden. Fraktionschef Jens Spahn, dessen Aufgabe es gewesen wäre, potenzielle Abweichler frühzeitig auf Spur zu bringen, schlägt schon länger das Misstrauen der SPD entgegen: Nicht wenige Sozialdemokraten betrachten Spahn als Wegbereiter einer Annäherung an die AfD und als jemand, der vor allem an den eigenen Vorteil denke, statt die Fraktion zu führen. 

Dass Spahn den Widerstand innerhalb seiner Fraktion in der Causa Brosius-Gersdorf falsch einschätzte, hat diese Wahrnehmung nur noch verstärkt. Spahn und Miersch sprechen zwar weiterhin regelmäßig, ist zu hören, aber es knirsche merklich.

Für eine Auflösung der vertrackten Lage rund um die Richterwahl liegen im Grunde drei Szenarien auf dem Tisch: Es wäre, erstens, Brosius-Gersdorf selbst, die das Dilemma auflösen könnte, indem sie ihre Kandidatur zurückzieht, worauf nicht wenige bei der Union hoffen. Bei einem TV-Auftritt ließ sie schon durchblicken, dass sie einen solchen Schritt nicht ausschließe, wenn der politische Preis ihrer Kandidatur zu hoch ausfiele. Derweil drängt die SPD weiter darauf, die Unionsfraktion solle die Richterin anhören – in der Hoffnung, im direkten Austausch würden die Vorbehalte abgebaut.

Aus den Reihen der CSU kam, zweitens, der radikal anmutende Vorschlag, gewissermaßen einen Neustart zu machen, also alle Kandidaten zurückzuziehen und nicht nur eine, sondern gleich drei Neue zu präsentieren. Der Landesgruppenchef im Bundestag, Alexander Hoffmann, hatte am Donnerstag gesagt: “Ich persönlich glaube, dass man da mit einem neuen Personalpaket wohl am ehesten rauskommt.” Bei der CDU zieht man diese Variante zumindest auch in Betracht. “Es braucht Offenheit für verschiedene Optionen, um die Frage der Richterwahl zu klären”, sagt der parlamentarische Geschäftsführer, Steffen Bilger.

In der SPD stößt die Idee von einem Komplettaustausch des Richtertrios indes auf wenig Gegenliebe: Ein Sprecher Klingbeils verwies auf dessen Ansage vor dem Urlaub. “Kein guter Vorschlag”, sagt indes der Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner. Dieser Vorstoß verletze das “politische Verursacherprinzip”. Heißt: Die Union hat es aus Sicht der SPD verbockt. Und soll es nun bitte allein lösen.

Im Kanzleramt wird, drittens, noch eine andere Alternative ventiliert: So betonte Kanzleramtschef Frei, es sei gar nicht “zwingend”, dass der Bundestag die Wahl der drei Verfassungsrichter durchführe. Schließlich könne auch der Bundesrat diese Aufgabe übernehmen. Auch das offenkundig ein Versuch, Druck aus der Sache herauszunehmen.

Käme es tatsächlich so weit, würden Union und SPD allerdings die Handlungsfähigkeit ihrer Koalition noch mehr in Zweifel ziehen. Das wäre, vor einem Herbst umstrittener Entscheidungen zur Zukunft des Sozialstaats, wohl weder ein Beitrag zum Vertrauensaufbau. Noch ein Garant für einen ruhigen Sommer.

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