Kultur

Richard Powers: Der helle Zauber der Bäume | ABC-Z

Es hat sofort etwas Heimatliches, wenn man in der Abenddämmerung, vom Flughafen in Knoxville kommend, an den Rand der dunkelgrünen Wälder der Great Smoky Mountains in Tennessee fährt, auch wenn man nie zuvor hier gewesen ist. Das Gefühl der Weite ist überwältigend. Das Gefühl der Geborgenheit auch. Die Luft ist klar, der Himmel rotviolett, die Umrisse der Berge ringsumher erscheinen scharf und klar. Am Morgen werden sich weiche Wolkennebel über die Wälder gelegt haben. Es wirkt, als wären sie hinabgesunken, vom Himmel.

Die Great Smoky Mountains, meistbesuchter Nationalpark der USA, gut 1.100 Kilometer südwestlich von New York, zur Hälfte in Tennessee, zur anderen in North Carolina gelegen, sind ein paradiesischer Ort. Mehr Baumarten als in ganz Europa ragen auf den 757 Quadratkilometern in den Himmel. Viele Schwarzbären, bunte, große Schmetterlinge, mehr Salamanderarten als irgendwo sonst jenseits der Tropen und eine große Stille. Hier lebt Richard Powers, einer der meistgefeierten und besten Schriftsteller der Vereinigten Staaten und der Welt. John Updike hat ihn früh mit Thomas Mann verglichen, und in der Tat gibt es nur wenige andere zeitgenössische Autoren, die auf so populäre, gefühlvolle Weise Naturwissenschaft, Kulturgeschichte und gesellschaftspolitische Debatten der Gegenwart in Romane verwandeln wie er. Das große Spiel heißt sein neuer Roman, er ist so etwas wie die Summe all seiner Bücher. Und sein bislang bester.

Drei Tage lang werden wir durch die Wälder streifen, in denen Powers in den letzten Jahren heimisch geworden ist. Er wird mir unendlich viele Bäume, Früchte, Pilze, Blüten, Moose zeigen und erklären. Er kennt das alles so gut, und doch ist es, als ginge er immer noch staunend durch diese Welt. Und stolz. Denn er ist ein Teil von ihr. Es ist, als zeige er dem Gast in diesem Wald sein großes Zuhause.

Am Morgen des ersten Tages kommt Powers mit seinem schon etwas älteren silbernen Elektro-Chrysler vor meinem Hotel angesummt. Ich steige ein, er hat einen etwas knochigen, aber herzlichen Handschlag. Offene, helle, scheue Augen, grau meliertes kurzes Haar, das eng am Kopf anliegt, er ist groß und schlank, fast schlaksig. Als er vor Jahren sein Genom entschlüsseln ließ, als neunter Mensch überhaupt, hatte sich unter anderem eine erbliche Veranlagung zur Fettleibigkeit ergeben. Nun, die Gene haben offenbar nicht immer recht.

Auf geht’s in das große Grün. Wir starten in Townsend, einem kleinen Städtchen am Rand des Nationalparks, eine breite Straße, links und rechts eingefasst von kurz gemähtem Gras, am Straßenrand so alle hundert Meter ein Holzhaus, eine “Dancing Bear Bar”, Barbecue-Restaurants, Burgerläden, Visitor Center. Jede Menge glänzend neuer, dröhnender Pick-ups und gigantischer GMC-Geländewagen rollen in Richtung Park. Die Menschenwelt hier trägt weiße Bärte, große Muskeln, und das mit einer tiefen, unerschütterlichen Selbstgewissheit.

Richard Powers hat einen besonderen “reading room”: einen umgefallenen Baumstamm, auf dem er sitzt und liest. Hier ist Ruhe – wenn kein Bär kommt. © Mike Belleme

Richard Powers ist etwas in Sorge, dass ich zum falschen Zeitpunkt gekommen bin. Es ist der Donnerstag vor dem Labor-Day-Wochenende, mit freiem Montag danach. Es werden die vollsten Tage im Jahr werden. Und wirklich werden Tag für Tag mehr Hochglanzriesen in den Park einrollen, bärtige Männer werden ihre Campingstühle in die Flüsse stellen, Füße und Bierdosen im kalten Wasser. Manche klemmen sich, als Zeichen symbolischer Naturverbundenheit, eine Angel unter die Achsel. Aber all das spielt sich nur in unmittelbarer Nähe der Parkplätze ab. Schon nach fünf Minuten Fußmarsch herrscht Stille.

Wir fahren auf einer kurvenreichen Schotterstraße den Fluss entlang, sanft steigen wir empor, es hat lange nicht geregnet, in einer Mail vor meiner Ankunft hatte Powers mir angekündigt, das Wetter sei in den letzten Wochen ziemlich schlimm gewesen. Da hatte ich natürlich an Regen, grauen Himmel, Kälte gedacht. Powers hatte aber die Trockenheit gemeint, die Hitze, Wolkenlosigkeit schon kurz nach Sonnenaufgang. Die Flüsse im Park führen relativ wenig Wasser, einige Wasserfälle sind ganz ausgetrocknet.

Wir steigen aus, gehen den Fluss entlang, die Natur ist wild, tiefgrün und im Vergleich zu europäischen Sommerverhältnissen feucht, üppig und kühl. Schon nach den ersten Schritten zeigt sich, was es bedeutet, mit Richard Powers durch die Wälder zu gehen. Keine Chance, hier als Begleiter neben ihm einfach nur abstrakt das Grün, die Stille, die Weichheit der Welt zu genießen. Er deutet auf den vor uns liegenden bewaldeten Bergkamm. Was mir auffalle? Nun ja, “aufsteigende Wälder, offensichtlich gesund, dichtes, kräftiges Laub”, fällt mir auf. “Bäume halt.” Aha. Einen Blinden führt er hier durch die Welt, muss er da denken. Und deutet ins Grün, ob ich da nicht die Linien sähe, die unterschiedlichen Grünschattierungen, die verschiedenen Blattformen, ab mittlerer Höhe übrigens auch Nadeln. Gut. Ja. Sehe ich. Und?

Powers erklärt mit unüberhörbarem Stolz, dass die Wälder hier in den Smoky Mountains so vielfältig seien wie nirgendwo sonst auf der Welt auf so engem Raum. Das kam so: Die Gletscher der Eiszeit gelangten nur bis zu den Apalachen, zu denen die Smoky Mountains gehören. Sie transportierten die Samen, Früchte, Setzlinge, die sie auf ihrer Reise hinab von der oberen Hälfte des Kontinents aufgesammelt hatten, bis hierher. Und beim Abschmelzen ließen sie alle hier. Und die Bäume, die Pflanzen wuchsen und vermehrten sich und wurden heimisch.

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