Kultur

Rezension: Faith Akins Spielfim „Amrum“ über das Weltkriegsende | ABC-Z

Anfang und Ende von „Amrum“ gehören dem Ideengeber dieses Films, der auch dessen Drehbuchautor sowie Vorbild für die Haupt­figur ist – und eigentlich auch der prädestinierte Regisseur gewesen wäre: Hark Bohm, dem ehemaligen Fassbinder-Stammschauspieler und Filmemacher eigenen Rechts, der mit „Nordsee ist Mordsee“ 1976 einen der besten Jugendfilme der deutschen Kinogeschichte gedreht hat.

Auch „Amrum“ ist ein Jugendfilm, der in freier Anlehnung an Bohms eigene Kindheitserfahrungen vom Jahr 1945 auf der nordfriesischen Insel erzählt, und der Vorspann verkündet denn auch: „Ein Hark Bohm Film von Fatih Akin“. Die letzten Bilder zeigen dann nach anderthalb Stunden den heute Sechsundachtzigjährigen am Strand von Amrum: Bohms verwittertes Gesicht hatte Fatih Akin schon 2022 dort fotografiert, als beide zusammen zur Recherche auf der Insel waren, zwei Jahre vor Beginn der Dreharbeiten.

Da war schon klar, dass Bohm dieses autobiographische Herzensprojekt aus Altersgründen nicht mehr selbst würde umsetzen können, doch in die Bresche sprach der mehr als dreißig Jahre jüngere Akin, international der bekannteste deutsche Regisseur seiner Generation, der Bohm als cineastischen Mentor nennt und sich von ihm schon zwei andere Filme schreiben ließ („Tschick“ und „Aus dem Nichts“). Die ästhetische Orientierung Akins an „Nordsee ist Mordsee“ ist Programm, und die Strandbilder von Bohm schneidet Akin gegen das eigentliche (nun vom „Amrum“-Kameramann Karl Walter Lindenlaub fotografierte) Schlussbild der Filmhandlung: das eingefrorene erstmals lächelnde Gesicht von Nanning Hagener, des jungen Alter Egos von Hark Bohm in „Amrum“. Mehr Hommage geht nicht.

Zwischen Vorspann und Schlusseinstellung spielt sich ein deutsches Lehrstück ab. Die in Hamburg ausgebombte Hille Hagener ist mit ihren Kindern im Stammsitz ihrer Familie auf Amrum untergekommen, Wilhelm Hagener ist an der Front, neben dem Walknochenzaun des Kapitänshauses ist die Hakenkreuzfahne aufgezogen. Als am 30. April 1945 die Nachricht von Hitlers Tod über den deutschen Reichssender verkündet wird, kommt Hille mit ihrem vierten Kind nieder. In der Woche danach, vor der Kapitulation, verliert die überzeugte Nationalsozialistin jeden Lebensmut: Sie verweigert die Nahrungsaufnahme. Nur auf ein Weißbrot mit Butter und Honig verspüre sie Appetit, sagt sie Nanning, ihrem ratlosen Ältesten, und der macht sich auf, um mitten im Kriegsende, wo auf Amrum kaum mehr etwas an Gütern verfügbar und jeder sich selbst der Nächste ist, das Gewünschte aufzutreiben.

Das Kind fanatischer Nazis

Jasper Billerbeck, bei den Dreharbeiten erst zehn Jahre alt, trägt in seiner ersten Rolle als Nanning mit seinem fassungslosem Staunen über den Zusammenbruch all dessen, woran er geglaubt hat (Jungvolk, Führer, elterlichen Schutz, Zugehörigkeit allgemein), den ganzen Film – nicht einfach eine Entdeckung, ein Erlebnis, wie dieser Junge reift unter der Last der Ereignisse. Laura Tonke ist dagegen als Hille zu verhärmt und verstockt, als dass man in ihr mehr sehen könnte als das Abziehbild einer Nazisse, wie wir sie bereits in Dutzenden Filmen gesehen haben. Weitaus besser dagegen Lisa Hagmeister als Hilles Schwester, die sich ein Gefühl für Moral bewahrt hat, das durch die NS-Ideologie nicht abhandelbar ist. Die Szene, wie sie ihren Neffen nach dessen Rückkehr aus Lebensgefahr empfängt, ist meisterhaft gespielt.

Nannings für die Beschaffung der benötigten Nahrungsmitteln notwendige Tauschaktivitäten bringen ihn weit herum unter den Bewohnern der Insel und sogar übers Watt (mit absehbar dramatischer Rückkehr) bis aufs benachbarte Föhr, wo ein noch fester an den Nationalsozialismus glaubender Onkel wohnt. Der fanatischste Nazi aber ist Nannings abwesender Vater, ein Propagandaschriftsteller, der im Film nur einen einzigen Auftritt haben wird: als Briefstimme. Die ist das Gegenstück zu einem weiteren Onkel, der in die USA ausgewandert ist, nachdem ihm die Familie die Heirat mit einer Jüdin untersagte. Auch der hat nur einen Auftritt: in einer Traumsequenz, die Fatih Akin, wie er sagt, zwischendurch schon einmal wieder aus dem Film herausgeschnitten hatte.

Doch in ihr fällt der entscheidende Satz des ganzen Films: „Du kannst nichts dafür“, sagt in diesem Traum der Onkel zu Nanning über dessen Eltern und deren Begeisterung für den Nationalsozialismus, „aber du hast trotzdem damit zu tun.“ Das ist nicht nur Hark Bohms Erkenntnis, der tatsächlich das Kind eines strammen NS-Propagandisten war, sondern mehr noch die Überzeugung Fatih Akins, der als Kind einer türkischen Einwandererfamilie in Hamburg geboren wurde und mit diesem Dialogsatz die historische Verantwortung anspricht, die mit der Identifikation (auch seiner eigenen) als Deutscher verbunden ist.

Aufforderung zur Denunziation

Diesen Onkel, der Nanning im Schlaf die Augen öffnet für das, was seine Zukunft im Banne der Vergangenheit bedeutet, spielt Matthias Schweighöfer – einer von drei großen Stars, die Akin in kleinen Rollen besetzt hat. Die anderen beiden sind Detlef Buck als spröder Fischer und keine Geringere als Diane Kruger, die Akin und Bohm mit „Aus dem Nichts“ ihre beste Rolle zu verdanken hat und nun für den Auftritt als hitlerverachtende Insulanerin eigens das lokale Idiom – nach dem Inselnamen „Öömrang“ genannt – gelernt hat.

Wie überhaupt ein Gutteil der Dialoge in diesem friesischen Dialekt gesprochen wird (jeweils untertitelt). Bei solchem Authentizitätsstreben ist es dann irritierend, dass das Haus, in dem Hille mit ihren Kindern wohnt, gleich neben der markanten Kirche des zentralen Inselorts Nebel liegt, Nanning aber von seiner Mutter aufgefordert wird, für eine Denunziation zum Ortsgruppenleiter zu gehen – „nach Nebel“. Die Erklärung für diesen Fauxpas ist leicht: Hark Bohms Familie lebte seinerzeit in Norddorf. Aber wer Amrum kennt, wird die Welt nicht verstehen, wie sie der Film hier einmal ausmalt.

Ansonsten schwelgen Akin und Lindenlaub in Mondnacht und Sonnenlichteffekten, Tierweltharmonie, Kniepsandweite, Backstein- und Reetdachromantik – Amrum wie aus dem Bilderbuch oder vielleicht eher: wie als Kalendermotiv. Was denn auch das Problem des Films ist: viel zu schön, um bewegend zu sein. Selbst das Flüchtlingsschicksal der auf die Insel gelangten Ostpreußen und Schlesier wirkt in der herrlichen Dünenlandschaft erträglich, obwohl das resultierende Elend ein wichtiges Movens der Handlung ist. „Amrum“ ist ein selbst für Akins Verhältnisse höchstpersönlicher Film, aber diesmal nicht in der Liebe zu den Figuren, sondern in der Achtung für Hark Bohm. Und im Staunen über die Insel Amrum. Nur zu verständlich. Aber weder überraschend noch handlungs­moti­vierend.

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