Revolution im Sternerestaurant „Alois“ in München | ABC-Z
Unsere Reise ins Ungewisse beginnt mit einem badehandtuchgroßen Tablett voller Behältnisse und Gerätschaften, das der Kellner feierlich neben unseren Tisch stellt. Dann wird er zum Alchimisten, vermischt Skir, den skandinavischen Joghurt, mit einem Pulver aus Dill, Ingwer und Akaziensamen, einem Sud aus fermentiertem Kaffeesatz, einem Öl aus geröstetem Kaffee und einem Granité aus Kaffee und Karotte, füllt das Ganze in ein winziges Porzellanschälchen kaum größer als ein Fingerhut, überreicht es uns mit einem erwartungsvollen Lächeln – und schon haben wir die erste Lektion des Abends gelernt: Hier ist kein Aufwand zu aberwitzig, um ans Aromenziel zu kommen, kein Detail zu unwichtig, um nicht im Geschmacksbild seinen legitimen Platz zu finden, jeder Tabu- und Traditionsbruch willkommen, um ein Hochamt der Unorthodoxie feiern zu können. Dass wir uns in den nächsten vier Stunden im „Alois“ nicht langweilen werden, wissen wir nach diesem Auftakt übrigens auch schon, obwohl wir keine Ahnung haben, mit welcher Gewissheit unsere Reise enden wird.
Das „Alois“ ist das Feinschmeckerrestaurant des ehemaligen königlich-bayerischen Hoflieferanten Dallmayr, residiert im ersten Stock des Delikatessenhauses im Herzen von München, ist mit zwei Michelin-Sternen dekoriert und wird seit einigen Monaten von einer jungen Chefköchin mit einem furchteinflößend geradlinigen Lebenslauf verantwortet: Rosina Ostler wuchs als Kind eines Rechtsanwalts und einer Immobilienkauffrau in München auf, wurde von ihren kochbegeisterten Eltern schon früh mit der Spitzenküche vertraut gemacht, studierte an der gastronomischen Universität der Slow Food-Bewegung im Piemont, fand neben dem Master noch Zeit für Praktika bei den Zwei-Sterne-Köchen Johannes King und Tanja Grandits und absolvierte ihre Lehre in der Traube Tonbach in Baiersbronn, nicht gerade die schlechteste Feinschmeckeradresse in Deutschland.
Spanische Hochgeschwindigkeit
Torsten Michel, der Drei-Sterne-Chef der „Schwarzwaldstube“, erkannte das Talent der akademischen Jungköchin, nahm sie in seine Brigade auf und war gewiss nicht glücklich, als sich Ostler aus dem Schwarzwald in Richtung Berlin verabschiedete. Dort kochte sie im „Einsunternull“ eine radikal regionalistische Küche, wechselte dann ins „Maaemo“ nach Oslo, einem der berühmtesten Lokale Skandinaviens, eröffnete dessen Zweitrestaurant, erkochte sich prompt einen Michelin-Stern, wurde daraufhin zur Küchenchefin des Stammhauses befördert, schmiss mit schlanken 30 Jahren souverän den Drei-Sterne-Laden und kehrte schließlich nach München zurück, weil sie die Zeit für gekommen hielt, nur noch nach ihren eigenen Vorstellungen zu kochen.
Jetzt nutzt Rosina Ostler ihre Münchner Freiheit in vollen Zügen, kennt weder Konventionen noch Kanonisierungen, folgt keinen Dogmen und keinen Moden und sorgt mit ihrem Sechzehn-Gang-Menü im Tapas-Stil für eine Verblüffung nach der anderen. Eine roh marinierte, papierdünne aufgeschnittene Kohlrabi-Scheibe füllt sie mit Tofu-Miso-Eis und Algen-Muskatblüten-Pulver und dekoriert sie mit den Blättern des Austern-Strauches, um unseren Gaumen auf den eigentlichen Austerngang vorzubereiten: die gegrillte Auster in einer Tartelette aus Nori-Algen mit Kopfsalat und Senf-Vinaigrette, deren terrestrische Schärfe erstaunlich gut zur ozeanischen Jodigkeit der Meeresfrucht passt.
Eine Rote Garnele aus Apulien wird mit höllenscharfem Chili und einer Wolke aus Vichyssoise kombiniert, die Erbse mit Stracciatella di bufala, Hopfensud und Jalapeño-Sauce. Und unter einer Nocke aus Kaviar verbirgt sich eine Creme aus Schmand und Räucheraal, während die confierte Seeforelle mit Ananastomaten, Bärlauchblüten, grünen Mandeln und chinesischem Rauchtee die Münchner Variante des „mar y montaña“ zelebriert.
Eine Tapa nach der anderen, die ersten allesamt mit der Hand zu essen, tischt uns die Köchin in beinahe spanischer Hochgeschwindigkeit auf, und manchmal kommt es uns vor, als sei ihr Kopf ein Druckkochtopf, der vor lauter Ideen bersten müsste, wenn sie nicht allesamt vor uns landeten – wie der Saibling, der bei ihr ganz unorthodox zur falschen Foie Gras wird: Seine Leber verarbeitet Ostler zur Creme, formt aus ihr ein kreisrundes Yin und Yang, arrondiert es mit Nussbutter, Miso, reduzierter Molke, Holunder als Blüte und Beere und einem Brioche mit Honig-Glasur, der in Whisky-Malz aromatisiert wird.
Zart wie der Morgentau
Und das Kalb ist bei ihr nichts als dessen Zunge, aufgeschnitten wie Pappardelle, ergänzt mit Mimolette-Schaum, Salz-Clementinen und Pfifferlingen, wozu der großartige Sommelier Julien Morlat einen genauso großartigen Château Haut-Marbuzet von 1995 aus seinem Schatzkeller mit 1100 Positionen ausschenkt, der 30 Jahre lang auf diesen Moment gewartet zu haben scheint.
Manches an Rosina Ostlers Küche ist noch kosmisch-kulinarische Urmasse, wild, ungestüm, hochenergetisch, seine endgültige Form kraftstrotzend suchend, manchem fehlt noch Maß und Mitte, etwa den sehr munter eingesetzten Chili-Schärfen. Das meiste aber ist in seiner Unkonventionalität und Unbeirrbarkeit die reine Lust, die jetzt schon in einer technischen Meisterschaft wie bei den ganz Großen auf den Teller kommt – so wie der gegrillte, mit dem eigenen Jus lackierte Rehbock, den die Rehabschnitte als Chorizo, ein Ragout aus weißen Bohnen, Tahin, Weinbergpfirsiche und exakt 77 geröstete Sonnenblumenkerne in schönster Harmonie begleiten: Das Fleisch ist zart wie der Morgentau ohne den geringsten Hautgout eines Lebergeschmacks, die Ausgewogenheit des Spiels von Säure, Süße und Schärfe zeugt von schönster Altersweisheit statt von jugendlichem Leichtsinn, und die Präsentation verrät das akademische Studium der alten Stilllebenmeister.
Zum ersten Dessert werden alle Gäste in die Küche gebeten, zur Brigade, die so jung ist, dass Rosina Ostler fast schon wie die Mutter der Kompagnie wirkt. Wir blicken in lauter strahlende Gesichter. Und wir sehen das kulinarische München jetzt noch ein bisschen heller leuchten, während es in Oslo ein wenig dunkler geworden ist.