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Reisners Blick auf die Front: “Putin wird keine ukrainischen Truppen im Raum Kursk dulden” | ABC-Z

Weiter kämpfen ukrainische Truppen tief auf russischem Territorium. Die in der Region Kursk eroberten Gebiete zu halten, werde aber enorm schwierig, warnt Markus Reisner bei ntv.de. Es drohe eine Überdehnung der ukrainischen Front. Derweil rücke Russland im Donbass weiter vor. Reisner sieht etwa die wichtige Frontstadt Tschassiw Jar kurz davor, an die Russen zu fallen.

ntv.de: Oberst Reisner, seit mehr als zehn Tagen kämpfen ukrainische Soldaten auf russischem Territorium bei Kursk. Wie entwickelt sich die Offensive?

Markus Reisner: Teilkräfte von insgesamt drei ukrainischen Brigaden sind jeweils bis zu knapp 15 Kilometer in russisches Territorium vorgerückt und haben südwestlich von Kursk Gelände in Besitz genommen. Die Ukraine versucht seit den letzten 48 Stunden, vor allem mit leichten Elementen und Spezialkräften möglichst weit vorzustoßen. Dabei werden die Hauptrouten vermieden, da diese bereits unter Beobachtung russischer Drohnen stehen und gezielt beschossen werden.

Wie immer in diesem Krieg sind die Informationen beider Kriegsparteien mit größter Vorsicht zu bewerten. Wie ordnen sie die Bilder der ukrainischen Seite ein?

Die Bilder und Videos der ukrainischen Soldaten von den von ihnen eingenommenen Dörfern dienen vor allem der gezielten Informationskriegsführung. Das trifft auch auf die Bilder zerstörter russischer Kolonnen und gefangener russischer Soldaten zu. So soll eine Dynamik entstehen, wie sie im Herbst 2022 im Raum Charkiw stattgefunden hat. Damals dachten die russischen Soldaten, sie seien dabei überflügelt zu werden. Sie gerieten deshalb in Panik und flohen. Ein derartiges Vorgehen funktioniert aber nur in den ersten 72 Stunden eines überraschenden Angriffes und dieses Zeitfenster ist nun vorbei.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Der Angriff hat auch viele westliche Analysten überrascht. Ist das strategische Ziel Kiews hinter der Offensive inzwischen klarer?

Das strategische Ziel der Ukraine ist es, kurzfristig aus den Negativschlagzeilen zu kommen und die Moral der eigenen Bevölkerung zu stärken. Mittelfristig versucht man, russische aus dem Donbass verlagerte Kräfte zu binden und somit das dortige Momentum der Russen zu brechen. Langfristig ist es hingegen das Ziel der Ukraine die eigene Position auf dem Schlachtfeld zu verbessern. So hofft sie, in eine günstigere Verhandlungsposition zu kommen. Die Situation in der Ukraine ist auch im Zusammenhang mit einer neuerlichen Verschärfung der Lage im Nahen Osten zu sehen. Kommt es tatsächlich zu einem iranischen Vergeltungsschlag gegen Israel, bestimmt dieses Thema die Schlagzeilen. Die Ukraine braucht aber Aufmerksamkeit und mediale Präsenz, wenn sie weiterhin Unterstützung erhalten will – vor allem die der USA.

Vor welche Aufgabe stehen die Ukrainer nun in Kursk?

Die Ukraine muss das militärisch genommene Gelände halten. Das heißt, sie muss sich nachhaltig zur Verteidigung einrichten. Das große Risiko besteht für die Ukraine insbesondere darin, kostbare Reserven, welche eigentlich im Donbass gebraucht werden, nun im Kursker Raum abzunützen. Möchte man den gewonnenen Raum südwestlich von Kursk halten, muss man immer weiter Kräfte nachschieben und diese mit Soldaten, Gerät, Waffen und Munition versorgen. Die Soldaten müssen zudem Verteidigungsstellungen errichten und dies unter permanenter russischer Bedrohung vor allem aus der Luft.

Was folgt daraus für die Ukraine?

Geht das Kalkül der Ukrainer in den nächsten Tagen und Wochen nicht auf, müsste sie ab sofort eine noch längere Front versorgen. Russland hat hingegen gemäß den Aussagen des ukrainischen Generalstabs bis Ende des Jahrs bis zu 700.000 Mann verfügbar. Damit kann Russland den Abnützungskrieg weiterführen, trotz der Blamage von Kursk. Die Ukraine hat sich durch ihre Offensive bei Kursk im schlimmsten Fall überdehnt.

Wie sehen die Gegenmaßnahmen der russischen Armee in Kursk aus?

Man erkennt, dass sich die russischen Truppen konsolidieren und laufend Reserven eintreffen. Russland versucht offensichtlich seit 48 Stunden, die Front im betroffenen Raum südwestlich von Kursk zu stabilisieren. Die russischen Streitkräfte schieben dazu langsam Truppen in Richtung der ukrainischen Angriffsspitzen vor. Sie greifen mit Lancet- und First-Person-View-Drohnen, Artillerie, Raketenwerfer und Gleitbomben an und zielen vor allem auf das schwere Gerät der Ukrainer. Die Ukrainer versuchen der russischen Aufklärung zu entgehen, indem sie in bewaldetes Gebiet ausweichen, die Hauptachsen vermeiden und wo immer möglich vorrücken. Im bewaldeten Gebiet setzen die Russen Kampfhubschrauber vom Typ Ka-52 und Mi-28. Diese sollen mit ihren Nachtsichtmitteln und Wärmebildgeräten die Ukrainer aufklären. Daher gelangen den Ukrainern wiederholt Abschüsse solcher Kampfhubschrauber.

Geht Kiews Kalkül auf, dass Russland Kräfte aus den ukrainischen Gebieten abziehen muss, um Kursk zurückzuerobern?

Das hängt von der Herkunft der zugeführten russischen Reserven ab. Dass diese aus dem Donbass kommen, ist noch nicht erkennbar. Den taktischen Markierungen der russischen Fahrzeuge zufolge lassen sich diese der operativen Gruppierung “SEVER” (deutsch: “Norden”) zuordnen. Demnach haben die Russen Kräfte aus dem Raum nördlich von Charkiw abgezogen. Hinzu kommen vermutlich bis zu zwei Staffeln Su-34-Kampflugzeuge. Deren Einsatz lässt sich am vermehrten Abwurf von Gleitbomben südwestlich von Kursk erkennen. Um diese Abwürfe zu verhindern, müsste die Ukraine Fliegerabwehr mittlerer Reichweite oder gar ihre neuen westlichen Kampfjets vom Typ F-16 einsetzen. Putin wird keine ukrainischen Truppen im Raum Kursk dulden.

Dementsprechend beobachten Sie auch kein Nachlassen der russischen Offensiven im Donbass sowie in den südlichen besetzten Gebieten?

Das Momentum des russischen Angriffs im Donbass ist ungebrochen. Das kann man an der anhaltenden Heftigkeit der Angriffe erkennen. Es scheint, dass diese an einigen Brennpunkten sogar zugenommen haben. In den letzten Tagen haben die Russen im Zentrum der Front im Donbass weitere Dörfer westlich von Otscheretyne und bei Torezk trotz hoher Verluste eingenommen. Hinzukommt der Vorstoß der Russen über den Donbass-Kanal und das Bilden eines Brückenkopfes bei Tschassiw Jar. Wenn es Russland gelingt, diesen auszuweiten, steht Tschassiw Jar vor dem Fall. Den Ukrainern scheint es nicht gelungen zu sein, ihre starke Stellung am Westufer des Kanals zu halten. Weitere russische Vorstöße werden im Norden bei Kupjansk und im Süden bei Ugledar gemeldet. Der Einsatz von Gleitbomben scheint etwas nachgelassen zu haben. Es werden weniger Videos in den sozialen Netzwerken geteilt, welche Abwürfe im Donbass-Gebiet zeigen. Dafür gibt es nun Videos, die Abwürfe von Gleitbomben bei Kursk zeigen, also auf russischem Territorium.

Welche Reaktionen auf die ukrainische Offensive nehmen Sie aus Russland wahr?

Der Einsatz deutscher “Marder”-Truppenpanzer im Raum Kursk, einem der wichtigsten Schlachtorte des Großen Vaterländischen Krieges, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, lässt bereits jetzt die Wogen in den russischen sozialen Medien hochgehen. Die Wut richtet sich hier aber vermehrt gegen die Ukrainer und nicht gegen Putin. Über die Blamage des nicht erkannten Angriffes und den Einsatz und die Gefangennahme von russischen Wehrpflichtigen wird nur am Rande diskutiert. Es ist zudem damit zu rechnen, dass Russland zeitnah einen weiteren massiven strategischen Luftangriff mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen durchführen wird.

Wie ist die Situation rund um das AKW Saporischschja, wo offenbar ein Kühlsystem in Brand geraten ist?

Derzeit vorliegende Bilder zeigen einen Brand im Inneren der Kühltürme. In ukrainische Medien heißt es, Russland habe zur Provokation im Inneren der Türme Reifen in Brand gesetzt. Man könnte dies ebenfalls als russischen Versuch werten, den Blick der internationalen Medien vom Raum Kursk abzulenken. Die internationale Atomenergiebehörde IAEA hat wissen lassen, ihr seien “keine Auswirkungen auf die nukleare Sicherheit gemeldet” worden. Aus dem Vorfall lässt sich das russische Narrativ herauslesen, die Ukraine wolle mit einem Drohnenangriff eine nukleare Katastrophe auslösen. Wichtig ist in jedem Fall die Bewertung des IAEA-Teams hinsichtlich einer möglichen Eskalation. Und diese scheint im Moment nicht gegeben zu sein.

Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko hat Truppen an die Grenze zur Ukraine verlegt. Was würde ein Kriegseintritt von Belarus für die Ukraine bedeuten?

Es würde in jedem Fall eine weitere Eskalation des Konflikts bedeuten. Völkerrechtlich wäre ein weiterer Staat als Aggressor involviert. Militärisch gesehen müsste die Ukraine eine weitere Front bewirtschaften. In Anbetracht der jetzigen Ressourcenlage wäre dies eine massive Verschärfung der Situation. Man müsste dann auch gegen die belarussischen Streitkräfte eine Verteidigungsoperation führen. Der Aufmarsch belarussischer Streitkräfte im Grenzgebiet zur Ukraine ist eine eindeutige Drohkulisse. Er trägt die Handschrift Putins, auch wenn es so scheint, dass der belarussischen Präsident Lukaschenko versucht, eine Involvierung seines Landes zu vermeiden. Die Frage ist, ob ihm dies auf lange Sicht gelingt.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

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