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Reisners Blick auf die Front: „In Kursk geht es nur noch darum, das eigene Leben zu retten“ | ABC-Z

Die Russen marschieren in der Kursk-Region massiv vorwärts, Teile des Kessels sind zusammengebrochen. Jetzt müssen die ukrainischen Truppen versuchen, heil rauszukommen, sagt Oberst Reisner ntv.de und erklärt zudem, wie die fehlende Hilfe der USA die Ukrainer zwingen, blind anzugreifen.

ntv.de: Herr Reisner, in den vergangenen Tagen haben die Russen im Raum Kursk sehr schnell sehr viel Gelände zurückerobert. Wie konnte das passieren? Was macht die Ukrainer dort derzeit so schwach?

Markus Reisner: Von den knapp 400 Quadratkilometern, die die Ukrainer vor einer Woche noch besetzt hielten, kontrollieren sie inzwischen nur noch etwa 150 bis 200. Der ganze Nordteil des Kessels ist zusammengebrochen. Das hat mehrere Gründe: Zum einen haben es die Ukrainer in den letzten Monaten nicht fertiggebracht, eine auch nur lokal begrenzte Luftüberlegenheit zu schaffen. Sie haben zwar immer wieder auch russische Drohnen abgeschossen, aber die Luftüberlegenheit hatte Moskaus Armee. Deren ständiger Beschuss mit Gleitbomben, Artillerie und Drohnen hat die Ukrainer zermürbt. In den letzten Tagen haben die russischen Truppen es geschafft, unterirdisch hinter die ukrainischen Linien zu gelangen. Sie sind mehrere Kilometer durch eine Gasrohrleitung unter der Erde marschiert und dann hinter den Linien der Verteidiger plötzlich in deren Rücken aufgetaucht. Für die Ukrainer war das eine böse Überraschung.

Zudem hatten die Russen ja auch eine wichtige Versorgungslinie unterbrochen? Darüber haben wir ja hier schon mehrfach gesprochen.

Ja, schon vor etwa vier Wochen ist es den Russen gelungen, die Versorgungsroute bei Kiyaniyza mit First-Person-View-Drohnen unter Feuer zu nehmen. Sie haben damit tatsächlich nicht eine wichtige, sondern die wichtigste Versorgungsroute nach Sudja hinein in den Kursker Kessel unterbrochen. Die Truppen dort waren somit von der Versorgung abgeschnitten. Und Sudja ist nicht irgendeine Stadt, sondern der zentrale Logistik-Knotenpunkt, von dem aus die Ukrainer in den letzten Monaten die Versorgungsgüter im Kursker Kessel verteilt haben. In dem Moment, als die Russen das geschafft hatten, war klar: Wenn die Ukrainer die unterbrochene Route nicht über einen anderen Versorgungsweg ersetzen können, werden die Truppen im Kessel nicht mehr lange fähig sein, den Feind aufzuhalten.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Ein weiterer Hinweis darauf, wie wichtig Logistik im Krieg ist?

Ohne Nachschub an Munition, Gerät, Ausrüstung, ohne die Möglichkeit, Soldaten rotieren zu lassen, Verwundete abzutransportieren, hält man an der Front nicht lange durch. Die Kriegsgeschichte ist voller Beispiele dafür, wie schnell es dann gehen kann. Parallel dazu haben die Russen den Kessel wie in einem Zangengriff weiter unter Druck gebracht. Von Nordwesten her durch russische Fallschirmjägerverbände und aus dem Raum südostwärts mit Marineinfanterieeinheiten.

Droht den Ukrainern dort in Sudja nun die Einkesselung?

Auf ukrainischer Seite kam es auch vor einem Monat schon zu ersten Rückzugsbewegungen. Momentan halten die Truppen noch einen kleinen Teil des Kessels. Ich sehe keinerlei Anzeichen, dass sie einen Gegenangriff versuchen. Im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, dass der Kessel in Kürze von den Russen in Gänze eingenommen wird. Nun müssen die Ukrainer alles daran setzen, sich möglichst strukturiert zurückzuziehen. Videos von dort zeigen allerdings, dass dies nur zum Teil gelingt. Ich denke, die Ukrainer werden versuchen, den Raum zumindest so lange zu halten, bis die Gespräche zwischen den USA und der Ukraine in Saudi-Arabien vorbei sind. Die sollen ja in dieser Woche stattfinden. Wenn Sudja fällt, ist der Kampf um Kursk aus meiner Sicht verloren.

Wenn Sie sagen, ein strukturierter Rückzug gelingt nur teilweise: Wie sieht das aus?

Wir sehen, dass die ukrainischen Soldaten sich in kleinen Konvois zurückziehen. Das ist ein eindeutiges Zeichen für den ukrainischen Rückzugsbefehl. Dort, wo die Soldaten mit den Fahrzeugen nicht mehr weiterkommen, sitzen sie ab und versuchen, sich in kleinen Gruppen zur Grenze durchzuschlagen. Dies alles unter Beobachtung und Angriffen russischer Drohnen.

Wir reden dann von einer Flucht zu Fuß?

Letztlich ja. Der Kessel ist Richtung russischer Grenze durch einige Gewässer begrenzt. Die Russen versuchen, die letzten intakten Brücken oder gelegten ukrainischen Pionierbrücken zu zerstören und den Ukrainern so den Rückzugsweg abzuschneiden. Sobald sich Kräfte vor den Brücken anstauen, greifen die Russen mit Artillerie, Gleitbomben oder First-Person-View-Drohnen an. Die ukrainischen Soldaten, die diese Angriffe überleben, müssen sich ergeben oder versuchen zu Fuß auszuweichen. Es geht nur noch darum, möglichst unversehrt aus dem Kessel zu kommen, das eigene Leben zu retten.

Wenn es den Ukrainern gelingt, die Grenze zur Heimat zu erreichen, sind sie dann erstmal in Sicherheit?

Nicht unbedingt. Entscheidend wird dann sein, dass die Ukrainer diese zurückkehrenden Verbände strukturiert aufnehmen können, dass sich die Kämpfer auffrischen können, neu ausgestattet werden, eine Möglichkeit bekommen, sich zu erholen. Dazu muss es dort an der Grenze aber zumindest eine Art provisorisch besetzter Verteidigungs- oder Verzögerungslinie geben, damit die Russen nicht gleich weiter nachstoßen.

Im Umkehrschluss heißt das: Wenn es richtig schlecht läuft, könnte aus der Kursk-Offensive der Ukrainer also eine russische Gegenoffensive auf ukrainisches Gebiet entstehen? Wenn die Russen die Grenze überqueren könnten und dann einfach weitermarschieren?

Das ist durchaus möglich, falls die Ukrainer sich nicht geordnet zurückziehen können, und sie auch nicht von bereitgestellten Verbänden aufgefangen werden. Gelingt beides nicht, können die Russen einfach weiter vorstoßen, bis sie auf eine stabile Verteidigungslinie treffen. Das Schlimmste, was bei einem derartigen Rückzug passieren kann, ist, dass Chaos und Panik ausbrechen.

Parallel zu den dramatischen Berichten von der Kursker Front teilten die USA am Wochenende mit, dass sie die Ukraine nun auch von ihren Erkenntnissen durch Satelliten und spezielle Aufklärungsflugzeuge abschneiden. Sehen Sie die Folgen bereits an der Front?

Durch die Aufklärung der Istar-Sensoren – Istar steht für Intelligence Surveillance Target Acquisition and Reconnaissance – haben die USA bislang über große Distanz potenzielle Ziele für die Ukraine aufgespürt. Russische Kommandoposten zum Beispiel, Störsender, Fliegerabwehr-Dispositive, Logistik-Knotenpunkte, Munitionslager, Gefechtsstände oder Kräfteansammlungen. Das befähigte die Ukrainer dazu, mit ihren sehr begrenzten Ressourcen sehr gezielt vorzugehen. Das fällt nun weg.

Und ohne die US-Aufklärung sind die Ukrainer blind?

In diesem Bereich ja. Sie können auf operativer Ebene kaum noch ein Lagebild generieren, das sie brauchen, um die Russen an genau diesen empfindlichen Stellen zu treffen. Blind sein bedeutet auch: Die Ukrainer sehen nicht mehr, was die Russen vorbereiten. Sie müssen davon ausgehen, dass die Russen jederzeit an allen möglichen Frontabschnitten angreifen könnten und haben keine Möglichkeit mehr, ihre Kräfte zu konzentrieren. Nur für den Nahbereich, also auf taktischer Ebene, wo in den einzelnen Gefechtsstreifen oft nur eine Handvoll Ukrainer gegen eine Handvoll Russen kämpfen, hat der Wegfall der US-Aufklärung keine Auswirkungen. Im Bereich unter 50 bis 60 Kilometern Frontentfernung können die Ukrainer den Gegner noch immer mit eigenen Drohnen aufklären und mit First-Person-View-Drohnen und Artillerie auf einer gewissen Distanz halten. Dahinter wird es jetzt sehr schwierig.

Gibt es Alternativen zu den Satelliten der USA?

Die Trump-Regierung hat auch die Briten und den privaten Satellitenbetreiber Maxar angewiesen, der Ukraine keine Satellitenbilder mehr zur Verfügung zu stellen.

Einer solchen Anweisung widersetzt sich vermutlich niemand?

Der US-Staat kann genug Druck ausüben, damit solchen Anordnungen Folge geleistet wird. Es gab parallel eine sehr drastische Aussage des US-Sondergesandten für die Ukraine, Keith Kellogg: Er verglich die Ukraine mit einem störrischen Maultier, dem man mit einem Holzscheit auf die Nase schlagen müsse, damit es versteht, was es zu tun hat. Das ist nicht die Sprache, die man unter Verbündeten sprechen sollte, aber da kann inzwischen ja nichts mehr überraschen. Wie es scheint, üben die USA derzeit deutlich mehr Druck auf Kiew aus als auf den Kreml.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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