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Reisebuch: „Atlas der geografischen Kuriositäten“ – Bemerkenswerte Grenzverläufe – Reise | ABC-Z

Es wäre sicherlich sehr aufschlussreich, sich dieser Tage in Point Roberts aufzuhalten, einer Gemeinde ganz im Nordwesten des US-Bundesstaates Washington. Das Besondere an Point Roberts ist, dass der Ort eine Exklave ist. Er liegt auf einer Halbinsel und ist auf dem Landweg nur von Kanada aus zu erreichen. Vancouver befindet sich Richtung Norden nur wenige Kilometer entfernt. Von den Bewohnern dieser Metropolregion rund um die kanadische Großstadt lebt Point Roberts. Sie kommen zum Tanken, um Alkohol und überhaupt Lebensmittel zu kaufen, weil das in den USA günstiger ist als in Kanada, oder um in einem Restaurant einen Medium-Rare-Burger zu essen, die im gesundheitsbewussteren Kanada selten serviert werden.

Point Roberts ist eine Gemeinde im Nordwesten des US-Bundesstaates Washington – und eine Exklave. (Foto: Illustration: Cyrille Suss)

Nun ist es allerdings so, dass sich aktuell ein gewisser patriotischer Trotz in Kanada etabliert als Reaktion auf die Politik von US-Präsident Donald Trump. Der belegt kanadische Waren mit hohen Einfuhrzöllen, obendrein beschuldigt er das nördliche Nachbarland fälschlicherweise, durch Lieferungen des starken Schmerzmittels Fentanyl schuld an der massiven Opioidkrise in den USA zu sein. Und ganz grundsätzlich stellt er die staatliche Eigenständigkeit Kanadas infrage. Etliche Kanadier kaufen deshalb keine amerikanischen Produkte mehr, schnell sind Apps entwickelt worden, mit deren Hilfe man überprüfen kann, ob in Lebensmitteln Zutaten aus den USA enthalten sind. Die polit-geografische Kuriosität, dass Point Roberts amerikanisches Territorium ist, war jahrzehntelang kein größeres Problem und nutzte sogar beiden Seiten. Jetzt könnte sie für die Bewohner zu einem Nachteil werden. Ein Besuch würde einem womöglich Weltpolitik im Kleinen und Konkreten vor Augen führen.

Wie es zu dieser und anderen merkwürdigen Grenzziehungen gekommen ist, erzählt Vitali Vitaliev in seinem Buch „Atlas der geografischen Kuriositäten. Ausgabe Nr. 3“. Im Fall von Point Roberts liegt es an einer sowohl peniblen als wiederum auch wurstigen Festlegung: Im Oregon-Vertrag von 1846 wurde für den Westen des nordamerikanischen Festlands der 49. Breitengrad als Grenze definiert. Erst an der Küste biegt sie nach Süden ab, Vancouver Island liegt teilweise südlich dieses Breitengrads, gehört dennoch vollständig zu Kanada. Dass der 49. Breitengrad in der Boundary Bay bereits übers Meer verläuft, am Ende der Bucht aber noch einmal eine kleine Halbinsel quert, ist bei dem Vertragsschluss Mitte des 19. Jahrhunderts schlicht übersehen worden.

Das Wohnzimmer des Hauses liegt in den USA, das Schlafzimmer in Kanada

Noch bizarrer ist die Situation in Stanstead: Die Stadt liegt zum Teil im US-Bundesstaat Vermont, zum Teil in der kanadischen Provinz Québec. Wer die Rue Canusa überquert, wechselt das Land. Zu Fuß ist das ohne Grenzkontrolle möglich, mit dem Auto muss man einen Grenzposten passieren. Canusa ist übrigens ein Kofferwort aus Canada und USA. Klingt verbindend. Es gibt aber immer schon auch Trennendes: Als es in den Neunzigerjahren zu einem Brand in dem Gebäude kam, in dem die Oper und die Bibliothek untergebracht sind, stritten sich eine amerikanische und eine kanadische Versicherungsgesellschaft erbittert vor Gerichten, wer für den Schaden aufkommen muss. Denn das Gebäude liegt wie drei andere Häuser in Stanstead auch direkt auf der Grenze, und es konnte nicht ermittelt werden, in welchem Teil der Brand ausgebrochen war.

In Baarle kann man kaum zehn Schritte gehen, ohne zwischen Belgien und den Niederlanden zu wechseln. (Foto: Jérôme/Jonglez Verlag)

Staatsgrenzen, die mitten durch Ortschaften verlaufen, gibt es auch anderswo. Ein bekanntes Beispiel ist Baarle, die Gemeinde mit 9000 Einwohnern liegt in den Niederlanden. Baarle besteht jedoch aus knapp zwei Dutzend belgischen Enklaven, in die wiederum ein halbes Dutzend niederländischer Enklaven eingeschlossen sind. Bürgermeister, Stadtrat, Feuerwehr, Müllabfuhr – in Baarle gibt es alles doppelt. Die Bewohner gehen damit pragmatisch um: In den belgischen Apotheken ist die Rezeptpflicht weniger streng, Käse ist in niederländischen Geschäften preiswerter. Wiederum kaufen Jugendliche Alkohol in belgischen Läden, dort bekommen sie ihn bereits als 16-Jährige. Absurd war es während der Corona-Pandemie, da auf engstem Raum zwei unterschiedliche Bestimmungen gegolten haben.

Ein weiterer Ort, in dem die Grenze mittendurch verläuft, beispielsweise durch einen Biergarten, ist Büsingen, eine deutsche Enklave in der Schweiz.

Die Tische in der Schweiz, die Theke in Deutschland: ein Biergarten in Büsingen am Hochrhein. (Foto: Triefeline/Jonglez Verlag)

Vitali Vitaliev hat mehr als 60 solcher geografischer Besonderheiten zusammengetragen, für jede hat Cyrille Suss eine schlichte, anschauliche Karte gezeichnet. Mal geht es um Straßen, Bahnlinien und Kanäle, die zu einem Land gehören, obwohl sie durch ein anderes verlaufen. Mal gab es aus politischen Gründen zeitweise Gebietsüberlassungen – so war Sainte-Adresse in der Normandie während des Ersten Weltkriegs Verwaltungshauptstadt des von Deutschland besetzten Belgiens. Besonders grotesk gestaltet sich die Situation an der kroatisch-serbischen und an der ägyptisch-sudanesischen Grenze: Dort gibt es Areale, die von keinem der jeweiligen Staaten beansprucht werden. Denn das würde jeweils mit dem Verzicht auf andere, begehrtere Flächen einhergehen. Und so pendelt dieser Atlas unterhaltsam und lehrreich zwischen Anekdoten und politisch Brisantem.

Vitali Vitaliev: Atlas der geografischen Kuriositäten. Ausgabe Nr. 3. Jonglez Verlag, Versailles 2025. 192 Seiten, 29,95 Euro.

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