Reichersbeurer Faschingszug: Von Teufeln, Schiffsbauten und einem Söder-Bart – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z
Ingo Mehner trägt jetzt Bart. Damit sieht der Tölzer Bürgermeister fast so aus wie der bayerische Ministerpräsident, aber nur fast. Seiner neuen Gesichtsbehaarung geht das etwas Mongolenhafte des Söder’schen Barts ab, darauf legt er Wert. Bei seinem Stellvertreter Michael Lindmair kommt er damit allerdings nicht durch. „Eine Ähnlichkeit ist nicht zu verkennen“, frotzelt der Zweite Bürgermeister. Das neue Outfit hat Mehner nicht ganz freiwillig gewählt. Der Bart ist den Vorbereitungen auf den Reichersbeurer Faschingszug am Sonntag, 2. März, geschuldet. Dann wird sich Bad Tölz wieder gegen die Invasion des närrischen Volks aus dem Nachbardorf verteidigen. Unter welchem Motto, verrät Lindmair als Koordinator der Abwehrmaßnahmen noch nicht. „Damit halten wir uns noch bedeckt, um die Reaktionszeit für die Reichersbeurer so gering wie möglich zu halten“, sagt er.
Der Faschingszug findet alle zehn Jahre statt. 2015 lockte der Gaudiwurm mehr als 30 000 Besucher in die Marktstraße. Wenn die Reichersbeurer diesmal mit rund 40 Wägen und 400 Teilnehmenden in die Kreisstadt einfallen, dann ist es närrischer Brauch, dass sich die Tölzer spaßeshalber dagegen stemmen. Vor einer Dekade verwandelten sie die Fußgängerzone in eine Hölle, mit Luftballons, Fahnen und Deko-Artikeln in Rot und Schwarz, allüberall waren Teufelinnen und Teufel auf den Straßen unterwegs. Der neue Bart von Bürgermeister Mehner dürfte mit dem diesjährigen Motto zu tun haben, was Lindmair indirekt bestätigt: „Aber es gibt keine große Einstiegshürden, es muss sich nicht jeder einen Bart wachsen lassen.“
Den Straßenfasching lässt sich die Stadt knapp 200 000 Euro kosten. Das Geld fließt in die Themen-Deko, die Technik, den Sicherheitsdienst, die Reinigung, in Pappbecher. Lindmair koordiniert die „Verteidigung“ beileibe nicht alleine, er sei nur „der Kopf des Widerstands“, sagt er. Beteiligt sind unter anderem das Team der Tourist-Info um Veranstaltungs-Chefin Heike Gaßner, der städtische Bauhof, vor allem aber zahlreiche Tölzer Vereine. „Da machen alle gerne mit“, sagt Lindmair. „Es ist schön zu sehen, dass es von sich aus, aus der Stadt heraus, ein so großes Engagement gibt.“ Auch die Einzelhändler hat die Wirtschaftsförderung der Stadt mit ins Boot geholt. Sie werden ihre Schaufenster – zum Motto passend – dekorieren, die schönsten Auslagen sollen prämiert werden.
Wenn der „MuaFaz“ nicht kommt, ist im Tölzer Fasching wenig los
Lindmair selbst liebt den Fasching. Wenn nicht der „MuaFaz“ – die „Mutter aller Faschingszüge“, wie die Reichersbeurer ihren Gaudiwurm in aller Bescheidenheit nennen – nach Bad Tölz kommt, dann ist karnevalsmäßig wenig los. Es gebe noch den Bergwacht-Fasching, sagt Lindmair. Aber das war’s dann schon. Früher sei es einmal anders gewesen, wie man auf 100 Jahre alten Postkarten sehen könne.
Auch der Faschingszug aus Reichersbeuern hat eine lange Tradition. Der erste, der beglaubigt ist, fand im Jahr 1878 statt. In der Monatsversammlung des Historischen Vereins in Bad Tölz zeigte Rudi Laimer die große Ankündigung in der Lokalzeitung und das „Einschreibbüchl“ der Babara Hagn. Die Schwester des Münchner Bürgermeisters Kaspar von Steinsdorf habe darin notiert, dass in Tölz eine „großartige Fastnacht aufgeführt“ worden sei, mit acht Wägen und 98 Mann, sagt der Gemeindearchivar von Reichersbeuern. Eher bescheiden fielen die Neuauflagen in den Jahren 1899 und 1922 aus, als es gar keinen Umzug gab, dafür Sackhüpfen, Hasenlaufen, Karrenrennen.
Auf eine Abwehr der anderen Art stießen die Reichersbeurer im Jahr 1929. Bei minus 32 Grad kamen sie mit ihren Wägen, mit Ochsen und Pferden an, durften aber zunächst nicht nach Bad Tölz hinein, weil dort ein 40-stündiges Gebet samt Andacht der Franziskaner stattfand. „Da haben sie dann gewartet und gefroren“, erzählt Laimer. In der Nazi-Zeit wurde der Faschingszug verboten. Der NSDAP war eine solche Veranstaltung suspekt, stattdessen organisierte sie 1939 ein Pferderennen. „Das war nichts Aufregendes, aber man brauchte einen Ersatz“, sagt der Gemeindearchivar.
Im zehnjährigen Rhythmus wälzt sich der Gaudiwurm seit 1955 nach Tölz. Die schwarz-weißen, später farbigen Fotos, die Laimer vorführte, spiegeln oft auch Zeitgeschichte wider: die MS Sylvenstein als Hinweis auf den bevorstehenden Bau des Sylvensteinspeichers (1955), die „Reichersbeurer Beatles“ (1965), eine große Limousine als Faschingswagen, die mit Ölscheichs besetzt ist und die Aufschrift „Lacht’s ned, ihr Isarwinkler, wir kaufen euch noch“ trägt (1975), das „Spaceshuttle“ (1995), der „Sister Act“-Wagen und das Thema Doping im Radsport (2005). Vor zehn Jahren schließlich das Piratenschiff aus „Fluch der Karibik“ und das Wikingerschiff, die beide hernach Käufer fanden.
Daneben gibt es stets Konstanten im Faschingszug: das Käfer-Auto, das närrische Auto, das Tabu politischer Themen auf den Wägen – und die Menschenmassen, die schon 1955 die Marktstraße füllten. In Reichersbeuern, sagt Laimer, fördere dieser Umzug „den Zusammenhalt im Dorf ganz ungemein“. Und was auch immer Bad Tölz diesmal zur Verteidigung plane, „es funktioniert nicht“, prophezeit der Gemeindearchivar, der als letztes Bild die vier Worte auf die Leinwand beamte: „Nur noch sieben Wochen.“ So lange muss Bürgermeister Mehner seinen Bart noch stehen lassen.