Kultur

Regisseur Franco über Film „Memory“: „Geplant war das nicht“ | ABC-Z

Zum zweiten Mal hat Michel Franco in den USA gedreht. In „Memory“ betrachtet er das Thema Erinnerung aus gegensätzlichen Perspektiven.

Unterschied­liche Sorgen mit den Erinnerungen: Saul (Peter Sarsgaard) und Sylvia (Jessica Chastain) in „Memory“ Foto: MFA+

Schon mit seinem Spielfilmdebüt „Daniel & Ana“ wurde Michel Franco 2009 zu den Filmfestspielen in Cannes eingeladen. Seither hat er sich als einer der am meisten gefeierten und auf Festivals prämierten Regisseure des mexikanischen Independent-Kinos etabliert. Immer wieder dreht der 45-Jährige dabei auch auf Englisch, so wie im Fall seines jüngsten Films, „Memory“, in dem Jessica Chastain und Peter Sarsgaard die Hauptrollen übernahmen.

taz: Herr Franco, Ihr neuer Film, „Memory“, ist thematisch durchaus komplex: Es geht um eine alleinerziehende Sozialarbeiterin, die darum kämpft, trockene Alkoholikerin zu bleiben, und einen Mann, der ihr nach einem Klassentreffen nach Hause folgt und – wie sich herausstellt – an frühzeitiger Demenz leidet. Zwischen den beiden kommt es zu einer zarten Annäherung, doch dann kommen Missbrauchs- und andere traumatische Erfahrungen der Vergangenheit ins Spiel. Womit nahm diese vielschichtige Geschichte ihren Anfang?

Michel Franco: Meine Drehbücher schreibe ich normalerweise ziemlich ins Blaue hinein, meistens ohne dass ich weiß, wohin die Reise geht. In diesem Fall hatte ich das, was jetzt der Anfang des Films ist, als Erstes vor Augen: zwei gebrochene Seelen begegnen sich zufällig bei einem Klassentreffen. Und ich wusste gleich, dass sie sich zunächst in seiner Gegenwart unwohl fühlt und er ihr nach Hause folgt. Aber warum er das tut, fand ich selbst erst im Schreibprozess heraus. Ich hatte gewisse Vorstellungen von den Figuren, von ihrem emotionalen Schutzpanzer zum Beispiel, den sie sich zugelegt hat, oder davon, dass sie in ihm zunächst etwas sieht, was er gar nicht ist. Diesen Einstieg in den Film zu finden, ist für mich immer das Wichtigste, denn nichts finde ich langweiliger als Geschichten, die sich auf etablierte Regeln und Formeln verlassen, sodass man schon nach zehn Minuten genau weiß, wer gut und wer böse ist. So ist es im echten Leben doch nie.

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taz: Zu Beginn des Schreibprozesses wissen Sie also noch nicht, wie Ihr Drehbuch enden wird?

Franco: Manchmal schon, aber nicht bei „Memory“. Ich weiß noch, wie ich die erste Fassung las und dann selbst ganz erstaunt war, wie gelungen ich sie fand. Da hatte sich auf Anhieb ein reizvolles Konzept herauskristallisiert: hier die Frau, der es nicht gelingt, sich von ihren Erinnerungen zu lösen, dort der Mann, der seine gerne festhalten würde, aber nicht kann. Geplant war das aber nicht. Meiner Meinung kann man nur wirklich gut und interessant schreiben, wenn man offen für alles ist. Wenn man im Vorfeld schon ein Konzept entwirft, schreibt man später ausschließlich strategisch, nicht wahrhaftig. Künstlerische Arbeit und Strategie schließen sich in meinen Augen aus. Würde ich mir vornehmen, mich jetzt hinzusetzen und ein Drehbuch über die Themen X, Y und Z zu schreiben, würde ich mir wie ein Betrüger vorkommen, der lediglich aus Kalkül handelt, statt in sich selbst hineinzuhören, was er überhaupt zu erzählen hat.

Der Regisseur Michel Franco wurde 1979 in Mexiko-Stadt geboren. Sein Spielfilmdebüt „Daniel & Ana“ lief 2009 in Cannes, wie auch sein zweiter Spielfilm „Después de Lucía“ (2012). „Chronic“ (2012) war sein erster englischsprachiger Film. Sein dystopischer Thriller „New Order“ lief 2020 in Venedig, ebenso die Filme „Sundown“ (2021) und „Memory“ (2023).

taz: Ist dieser Ansatz auch dafür verantwortlich, dass Ihre Filme gerade thematisch immer wieder höchst unterschiedlich sind?

Franco: Ja, das kann sein. Und es freut mich, wenn Sie das so wahrnehmen. Denn auch wenn ich meine Arbeit als Filmemacher nicht als Karriere betrachte, die ich planen oder steuern kann, liegt mir doch viel daran, nicht immer wieder den gleichen Film zu drehen. Sich nicht zu wiederholen ist gar nicht so einfach, aber es wäre auch banal und oberflächlich, auf Teufel komm raus jedes Mal etwas komplett anderes zu machen, nur um der Veränderung willen. Womit wir wieder beim Kalkül sind – und das ist eben nicht mein Ding. Anders als mir manchmal unterstellt wird, suche ich mir auch nicht Themen aus, mit denen ich provozieren will. Mein Ansatz ist vielmehr absolute Ehrlichkeit, und meine Drehbücher sind immer eine unmittelbare Reaktion darauf, wie es mir geht und was mich umtreibt. Auch deswegen feile ich nicht sechs Jahre lang an einem Drehbuch. Was rausmuss, muss raus. Mein vorangegangener Film, „Sundown“, etwa entstand aus einer existenziellen Lebenskrise, die ich durchmachte. Während der Arbeit an „Memory“ war ich sehr viel ruhiger und zufriedener, sodass ich mich zum Beispiel erstmals der Liebe als Thema annahm.

taz: Wie früh kam in diesem Kontext eigentlich der Kontakt zu Oscar-Gewinnerin Jessica Chastain zustande? Haben Sie die weibliche Hauptrolle schon für Sie geschrieben?

Franco: Nein, das Skript war fertig, als wir ins Gespräch kamen. Sie mochte offenbar meine früheren Filme, vor allem „New Order“. Und ich suchte nach einer amerikanischen Schauspielerin für diese Rolle. Unsere Agenten arrangierten dann ein Treffen, weil sie glaubten, dass wir ganz gut zusammenpassen könnten. Ich war natürlich neugierig, weil ich wusste, was für eine gute Schauspielerin sie ist. Aber ich musste auch herausfinden, ob das reichte.

taz: In welchem Sinne?

Franco: Was ich natürlich nicht hätte gebrauchen können, war ein verwöhnter Hollywood-Star. Ich sagte ihr gleich, womit sie rechnen müsse: eine kleine Independent-Produktion mit sehr kleinem Budget, bei der es keine luxuriösen Wohnwagen gibt, wo man sich zwischen den Szenen ausruhen kann. Zu meiner Freude unterbrach sie mich sofort. Ihr ging es um das Drehbuch und um mich, nicht um Geld oder Ähnliches. Keine Selbstverständlichkeit. Aber Jessica ist tatsächlich eine sehr bodenständige, ernsthafte und uneitle Schauspielerin, die kurz vor unserem Treffen gerade wochenlang in Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ am Broadway auf der Bühne stand. Allüren habe ich bei ihr keine entdeckt.

taz: Angesiedelt ist „Memory“ nicht in Ihrem Heimatland Mexiko, sondern in New York…

Franco: Stimmt, nach „Chronic“ habe ich zum zweiten Mal in den USA gedreht, vor allem in Brooklyn. Ein amerikanischer Film ist „Memory“ trotzdem nicht. Ich bin selbst der hauptverantwortliche Produzent, und ich habe große Teile meines Teams aus Mexiko eingeflogen. Unser Ausstatter, die Kostümbildnerin, der Editor – alle mexikanisch. Den Rest der Crew habe ich dann vor Ort zusammengestellt, aus echten, toughen New Yorkern, die wissen, was Indie-Kino bedeutet. Wobei ich ehrlicherweise eigentlich lieber in Mexiko drehe. Nicht nur, weil ich mich da zu Hause fühle, sondern auch, weil es für Filmsets und Produktionen deutlich weniger Regeln, Auflagen und Behördenkram gibt als in den USA.

taz: Hätte die gleiche Geschichte nicht auch einfach in Mexiko spielen können?

Franco: Für mich nicht. So wie die mexikanische Gesellschaft funktioniert und die Menschen dort kommunizieren, hätte meine Geschichte mit den Details, die ich dafür im Kopf hatte, dort einfach nicht hingepasst. Ich hatte immer eine westliche Metropole im Sinn, ob nun London oder in den Vereinigten Staaten. New York war dann nicht nur deswegen die erste Wahl, weil die Stadt einfach ein besonderes Kino-Flair hat, sondern auch, weil sie logistisch am meisten Sinn ergab. Die Auswahl an exzellenten Schauspielern, die dort leben, ist riesig, sodass man niemanden extra einfliegen muss. Das ist für mich besonders wichtig, weil ich chronologisch drehe und meinen Drehplan nicht an irgendwelche Reisedaten anpassen kann.

taz: Warum drehen Sie chronologisch, was im Filmgeschäft ja eher unüblich ist?

Franco: Bei meinem allerersten Film, „Daniel & Ana“, habe ich vor 15 Jahren noch alles so gemacht, wie man es üblicherweise macht, und fand die Erfahrung der Dreharbeiten fürchterlich. Seit meinem zweiten Film mache ich deswegen alles nur noch so, wie ich es möchte. Ich arbeite nicht mehr mit externen Produzenten zusammen, selbst wenn dadurch meine Budgets wirklich winzig sind. Ich arbeite schon während des Drehs an der Montage. Und ich drehe chronologisch. Einfach weil mein gesunder Menschenverstand mir sagt, dass das am meisten Sinn hat. Ich weiß natürlich, dass man an Filmschulen für diese Meinung auf die Abschussliste kommt. Aber ich habe Filmemachen nicht studiert und halte solche Schulen auch für einen Fehler.

taz: Weil …?

Franco: Weil man das Filmemachen und Kunst allgemein niemandem beibringen kann. Das muss man sich selbst erarbeiten. Finde ich jedenfalls.

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