Politik

Regierungskrise in Frankreich: Ein Präsident ohne Volk | ABC-Z

Zum Aufatmen besteht kein Grund. An der strukturellen politischen Krise Frankreichs wird auch Sébastien Lecornu als neuer Premierminister wenig ändern können. Westlich des Rheins wird gerade eine Schlacht ausgetragen, die mehr oder minder alle westlichen Demokratien betrifft. Nach dem Brexit und dem ersten Wahlsieg Donald Trumps war Emmanuel Macron 2017 angetreten, eine Alternative aufzuzeigen. Seine „Revolution“, so der Titel seines Wahlkampfmanifests, bestand darin, nicht für Abschottung und Selbstvergewisserung zu werben, sondern für marktwirtschaftliche Öffnung und europäische Integration: der europäische Traum statt France first!

Doch nun wird der Präsident mitgerissen von einem Fluss, der Frankreich seit Langem durchströmt. Vor zwanzig Jahren sagte eine Mehrheit der Franzosen Nein zum europäischen Verfassungsvertrag. Den Ausgangspunkt für die derzeitige Krise bildet die Abstrafung von Macrons Europaprogramm bei den Europawahlen im Juni 2024. Das schlechte Ergebnis war eine Ohrfeige für den Präsidenten, der alles auf die europäische Karte gesetzt hatte. Er reagierte pikiert und löste die Nationalversammlung auf. Seither kommt Frankreich nicht zur Ruhe. Drei Premierminister hat Macron bereits verschlissen. Die EU-Kritiker, vom linken wie vom rechten Rand, geben in der Nationalversammlung den Ton an. Marine Le Pen wirbt zwar nicht länger für einen Frexit. Sie will die EU von innen aushöhlen. Ihr heimlicher Verbündeter ist die Linkspartei LFI, die aus anderen Beweggründen auf einen Konflikt mit der EU hinarbeitet.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Der skeptische Blick auf Brüssel zählt in Frankreich längst zum Mainstream. Auch deshalb fällt es Macron so schwer, auf europäische Verpflichtungen zu pochen. Viele französische Volksvertreter pfeifen auf die EU-Defizitkriterien. In ihren Wahlkreisen ernten sie keine Anerkennung dafür, wenn sie Haushaltsdisziplin predigen und vor einer Schuldenkrise warnen. Das hat zuletzt Regierungschef François Bayrou erlebt, der nach seiner Ruckrede zu den Staatsfinanzen gestürzt wurde. Die scheinbar grenzenlose Kreditaufnahme während der Pandemie hat den ohnehin schwachen Rückhalt für nachhaltiges Haushalten zerstört.

Jetzt ist Frankreich in einem Teufelskreis gefangen. Das Stabilitätsgelübde Macrons verhindert nicht, dass das Land finanziell abdriftet und zu einem Risiko für die EU wird. In der Nationalversammlung gibt es keine Mehrheiten für einen strikten Sparkurs. Jetzt steht sogar die letzte europäische Errungenschaft von Macrons zweiter Amtszeit zur Disposition: die Rentenreform, mit der er die französische Altersversorgung zaghaft an die der europäischen Nachbarn annäherte. Der Pakt mit Macron, den die Wähler 2022 erneuerten, zerbröselt. Er lautete, dass der Präsident Frankreich durch Reformen wieder stark macht und es so zu einem verlässlichen Partner in der EU wird.

Die bürgerliche Mitte in Frankreich schrumpft

Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen erklären, warum Macrons Wählersockel, die bürgerliche Mitte, schrumpft. Das weitgehend katholisch geprägte Frankreich ist einer Konsumgesellschaft gewichen, in der die sonntägliche Messe durch die Pilgerfahrt zu Ikea ersetzt wurde. Wirtschaftliche Erfolge in urbanen Ballungszentren und die erneuerte Attraktivität des Standorts Frankreich haben den Trend zur Deindustrialisierung weiter Landesteile nicht aufhalten können. Der Politikwissenschaftler Jérôme Fourquet hat überzeugend dargelegt, wie Marine Le Pen sich erfolgreich an die Absteiger der Konsumgesellschaft richtet. Diese Verlierer sind auf dem Weg, zu den Gewinnern der nächsten Wahlen zu werden.

Die französische Krise ist zugleich eine des Präsidialsystems, das gern auch republikanische Monarchie genannt wird. Macrons Führungsstil steht im Einklang mit dem Institutionengefüge, wie es sich Verfassungsvater Charles de Gaulle gewünscht hat. Macron versucht erst gar nicht, wie sein glückloser Vorgänger François Hollande, als „Normalo“ zu gefallen. Er herrscht wie einer, der immer das letzte Wort hat. Das zeigte auch der jüngste Fernsehauftritt seines zurückgetretenen Premierministers Sébastien Lecornu. Dieser verwies immer wieder darauf, dass die Entscheidung beim Präsidenten liege.

Doch Macron hat vernachlässigt, dass es das Volk ist, das ihm seine große Machtfülle gewährt. Der Präsident kann das Parlament auflösen und die Bürger in Referenden direkt befragen – das ist einer der in deutschen Augen befremdlichen Grundzüge des französischen Systems. Damit soll sichergestellt werden, dass der Präsident noch das Vertrauen einer Mehrheit genießt. Nun zeigt sich, wie wenig zeitgemäß diese Funktionsweise noch ist. Macron hat ein großes Legitimationsdefizit, weil er auf die Abstrafung an den Urnen nur unzureichend reagiert hat. Aus dieser Legitimitätsfalle kann ihn der beste Premierminister nicht befreien.

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