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Rechtsextreme auf freiem Fuß: 555 Neonazis mit offenen Haftbefehlen gesucht | ABC-Z

Berlin taz | Die Zahl der nicht vollstreckten Haftbefehle gegen Neonazis ist weiter hoch: 730 Haftbefehle waren zum Stichtag am 30. September 2024 nicht vollstreckt. Das geht aus den der taz vorliegenden Antworten des Bundesinnenministeriums auf eine kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Martina Renner hervor: 555 Neonazis sind damit trotz offener Haftbefehle weiter auf freiem Fuß. 136 dieser Rechtsextremen wurden wegen Gewaltdelikten gesucht, gegen 19 dieser Personen gab es sogar mehrere Haftbefehle wegen Gewaltdelikten.

27 der Haftbefehle ergingen wegen politisch motivierter Gewalt wie Körperverletzungen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamt*innen, 162 Haftbefehle waren ebenfalls auf eine politisch rechte Motivation zurückzuführen – etwa Volksverhetzung, das Zeigen verbotener Nazi-Symbole oder rassistischer Beleidigungen. Hinzu kämen allgemeine Kriminalität von Rechtsextremen – wie Diebstahl, Betrug und Erschleichen von Leistungen. Eine terroristische Tat lag keinem der Fälle zugrunde.

Das Innenministerium von Nancy Faeser (SPD) macht geltend, dass in allen Fällen polizeiliche Fahndungsmaßnahmen initiiert worden seien. Vor allem bei Gewaltdelikten gebe es eine „besondere Prüfung im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ)“. Allein zwischen März und September 2024 seien insgesamt 374 Haftbefehle gegen Rechtsextreme vollstreckt worden oder hätten sich „auf andere Weise erledigt“ – „z. B. durch Zahlung einer Geldstrafe“. Die zeige, „dass die Polizei die Fahndungen mit Nachdruck und erfolgreich durchführt“, heißt es in der Antwort.

Allerdings führe das „fortlaufende Kriminalitätsgeschehen“ dazu, dass neue Haftbefehle zu anderen oder denselben Personen erstellt werden müssen oder neue Fahndungsmaßnahmen eingeleitet werden müssten. Demnach kommt man auf 306 neue Haftbefehle gegen Neonazis allein im Zeitraum von März bis September.

Die 730 Ende September nicht vollstreckten Haftbefehlen sind eine leichte Abnahme gegenüber April 2024, als es noch 799 offene Fahndungen gab. Höchststand war im Herbst 2022, als es 915 offene Haftbefehle gegen 674 Neonazis gab. Insgesamt ist die Zahl der mit Haftbefehl gesuchten Rechtsextremen in der letzten Dekade rapide angestiegen: Seit 2012 werden die Zahlen im Halbjahresrhythmus erhoben. Damals wurden „nur“ 266 Neonazis mit offenen Haftbefehlen gesucht.

AfD-Verbot könnte helfen

Die Linken-Abgeordnete und Rechtsextremismus-Expertin Renner fordert, die Netzwerke der extremen Rechten konsequenter zu bekämpfen: Der Verfolgungsdruck der Behörden bei gesuchten Neonazis sei unbestritten, aber dennoch verharre die Zahl auf hohem, fast unverändertem Niveau. „Besorgniserregend ist der hohe Anteil von 25 Prozent Gewalttäter unter den Gesuchten“, konstatierte Renner. Eine konsequente Bekämpfung und Verfolgung von Hasskriminalität aber gebe es erst, wenn die Anzahl der Fahndungen dauerhaft sinke.

Das jedoch gehe nur, wenn man die extrem rechten Strukturen in den Blick nehme, argumentiert Renner: „Konsequente und konkrete Strafverfolgung wie zuletzt nach den Prügelattacken von Neonazis in Görlitz und Berlin sind nur eine Seite der Medaille.“ Nährboden für diese Straf- und Gewalttaten seien „die Netzwerke der extremen Rechten, die inzwischen als Vorfeld parlamentarischer Strukturen agieren und die Gewalt gegen politische Gegner und demokratische Institutionen legitimieren“, so Renner. Sie frage sich, ob und wann diese Resonanzräume und ihre parlamentarischen Ableger dafür eine entschiedene Antwort „der angegriffenen Institutionen“ erhielten. Auf die Frage, was diese entschiedene Antwort sein könnte, nannte Renner: „die Prüfung eines AfD-Verbots“.

Zugleich berichtete das RedaktionsNetzwerk Deutschland am Montag für das Jahr 2024 von einem neuen Höchststand rechtsextremer Straftaten. Allein bis zum 30. November habe das Bundesinnenministerium 33.963 Delikte gezählt, das sei gegenüber 2023 ein Anstieg um 17,3 Prozent. Den größten Anteil machten Propaganda-Delikte (21.311) und Volksverhetzung (5.097) aus. Aber es seien auch 1.136 Gewaltdelikte gezählt worden sowie 1.942 Sachbeschädigungen.

Interessant ist bei den von der Linken regelmäßig abgefragten neuen Zahlen: Neonazis verstecken sich offenbar international – und zwar am liebsten in Polen. 103 der gesuchten Rechtsextremen befanden sich mutmaßlich im Ausland, 22 davon in Polen, ebenso einige in Österreich (9), der Schweiz (6) sowie in Frankreich, Italien und Rumänien (5). In Paraguay halten sich vier hier gesuchte Neonazis auf, drei in Russland, ebenso wie in der Türkei, Georgien und Litauen.

Auch in den Mischszenen viele nicht vollstreckte Haftbefehle

Internationale Fahndungsausschreibungen würden im Einzelfall durch die zuständigen Justizbehörden geprüft. Der Bundesregierung lägen keine Erkenntnisse vor, wie viele gesuchte Neonazis zum Stichtag nach Deutschland ausgeliefert wurden. Zudem lagen 3 internationale Haftbefehle gesuchte Rechtsextreme aus dem Ausland vor, die sich gerade in Deutschland aufhalten.

Abgefragt hat die Linke auch die Zahlen, die das Bundesinnenministerium der politisch motivierten Kriminalität im Feld „Sonstige“ zuordnet. Darunter fallen in der Regel aus Behördensicht schwerer zu klassifizierende Phänomene und Felder – häufig handelt es sich um Verschwörungsideolog*innen, Reichsbürger*innen, aber auch Prepper*innen, insofern sie aus Behördensicht nicht eindeutig rechtsextrem sind.

Auch in dieser schwer über einen Kamm zu scherenden Mischszene gibt es wie bei den Neonazis beunruhigend viele nicht vollstreckte Haftbefehle: Auch hier wurden 424 Personen gesucht, mit 558 offenen Haftbefehlen. 105 dieser Personen wurden wegen Gewalttaten gesucht, eine gar wegen einer terroristischen Tat. 103 der Gesuchten hat einen offenen Haftbefehl wegen politisch motivierter Kriminalität. Seit März wurden in diesem Bereich 252 Haftbefehle vollstreckt oder haben sich erledigt, demnach sind 209 neue hinzugekommen.

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