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Rechte Desinformation über Magdeburg-Attentäter Taleb Al A. im Internet | ABC-Z

Der 20. Dezember 2024 geht als ein weiteres Datum in die Geschichte des Terrors ein. Ein Attentäter rast mit seinem Wagen auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg, auf vierhundert Metern mäht er Menschen um, bis er auf seiner irren Fahrt gestoppt wird. Mehr als 200 Verletzte und – bislang – fünf Tote sind zu beklagen. Taleb Al A. will ein Zeichen setzen, er will sich rächen, er will bestrafen. Für seine Rache sucht er sich die unschuldigsten, wehrlosesten Opfer aus, Familien mit Kindern auf dem Weihnachtsmarkt. Er verbreitet Leid und Schrecken. So sieht Terror aus.

Ein Islamist, oder doch nicht?

Die Wahrnehmung einer solchen Untat folgt einem Muster, das wir seit Jahren kennen. Es beginnt mit Eilmeldungen, die davon handeln, dass sich auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg etwas Schreckliches ereignet hat. Von vielen Verletzten ist die Rede, von Todes­opfern noch nicht. Das wird sich bald ändern. Kein Unglück, ein Anschlag, das ist bald klar. Erste Bilder von der Schreckensfahrt gehen im Internet viral, sie künden vom Ausmaß des Leids. Wir sehen einen einzelnen Polizisten, der den Täter mit gezückter Waffe stellt.

Nicht lange, da wird bekannt, dass es sich um einen fünfzig Jahre alten Mann handelt, der aus Saudi-Arabien stammt. Das passt ins Raster. Die meisten mörderischen Anschläge der vergangenen Jahre in Europa gehen auf das Konto von Islamisten, deren familiäre Wurzeln im Nahen Osten liegen – der Massenmord im Bataclan in Paris, die Terrorfahrt in Nizza, der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin vor acht Jahren, das Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“, der Mord an dem Lehrer Samuel Paty, die Ermordung des Polizisten Rouven Laur in Mannheim, das Messerattentat auf einem Volksfest in Solingen mit drei Toten, um nur einige zu nennen.

Blumen für die Opfer des Anschlags in MagdeburgEPA

Und so steuert die mediale Mund­propaganda auf den zweiten bekannten Punkt zu: Herkunft und Absicht des Täters. Dass es sich um einen Islamisten handele, wird in den etablierten Medien vorsichtig erwogen und zugleich hinterfragt, von einigen Boulevardblättern behauptet und dann stillschweigend gestrichen. In den „sozialen“ Medien, auf den Netzplattformen, hingegen ist es schnell ausgemachte Sache und bleibt es. Vor ­allem auf der Plattform des digitalen Chefeinpeitschers Elon Musk. Nur diesmal geht die Rechnung nicht auf. Die Fake-News-Macher kümmert es nicht.

„Noch nie so ein Täterprofil gesehen“

Fünfeinhalb Jahre vor seiner Tat tauchte Taleb Al A. mit einem Interview im Feuilleton der F.A.Z. auf. Im Juni 2019 präsentierte er sich als radikaler Islamgegner. „Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte“, sagte er und schilderte sein Engagement für Menschen, die vor dem repressiven Regime aus Saudi-Arabien flohen – so wie er selbst. 2006 war er nach Deutschland gekommen, 2016 erhielt er endgültig politisches Asyl, er arbeitete als Facharzt für Psychiatrie im Maßregelvollzug Bernburg und schien in die deutsche Gesellschaft integriert. In den letzten Jahren ließ er jedoch einen Verfolgungswahn und eine Radikalisierung erkennen, die sich nicht nur gegen den Islam, sondern den deutschen Staat richtete.

Hätte man das nicht erkennen können und müssen, lautet die vielgestellte Frage. Angesichts des Hasses und der Gewaltandrohungen, die auf den Plattformen im Netz zuhauf kursieren, erscheint die Frage müßig. Und mit der Feststellung, irgendwer hätte Taleb Al A.s Radikalisierung erkennen und einschreiten müssen, sollte man vorsichtig sein. „In 25 Jahren haben ich noch nie so ein Täterprofil gesehen“, sagt der am King’s College in London lehrende Terrorismus-Experte Peter Neumann bei ­n-tv. Mit diesem Profil haben die rechten Scharfmacher im Netz allerdings keine Probleme. Was nicht ins Raster passt, sie machen es passend.

Elon Musk geht auf den Bundeskanzler los

Schuld ist selbstverständlich Taleb Al A., der Verschwörungserzählung von rechts nach aber auch der deutsche Staat. Wenn schon kein Islamist, dann muss zur Erklärung die Herkunft des Täters reichen. Elon Musk dirigiert die Empörung Richtung Bundeskanzler Olaf Scholz, den er auf seiner Plattform X einen „inkompetenten Idioten“ nennt. Dass Taleb Al A. mit seiner Wahnvorstellung, er müsse das Land bestrafen, das ihn aufgenommen hat, indem er Unschuldige tötet, selbst sich den Vorstellungen des völkischen Lagers angenähert haben könnte und der AfD zuneigte, wird dort ignoriert. Die Erzählung lautet, wie man sich bei der AfD-Influencerin Naomi Seibt, die mehrere Hunderttausend Follower hat, exemplarisch anhören kann: Es spiele keine Rolle, ob der Täter verrückt, ein Agent, „vielleicht ein Islamist war, vielleicht ein Atheist“ oder sich als „non-binäres Einhorn“ identifiziere. Was zähle, sei: Mit der AfD an der Regierung wäre er nicht in Deutschland. Die einzige Hoffnung „für dieses Land“ ruhe auf der AfD. So spricht eine Stichwortgeberin dieser Partei mit sich überschlagender Stimme, auf die Elon Musk gerne hört. Was Deutschland angeht, ist sie seine bevorzugte Quelle. Für deren Reichweite sorgt sein Algorithmus.

Doch es gibt noch mehr. Von 34 Toten schreibt ein AfD-Landtagsabgeordneter. Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner hält den Täter von Magdeburg für einen Syrer, spricht von elf Toten, von Gerüchten über fünf Täter, zwei von der Polizei erschossen, drei auf der Flucht, und Sprengstoff in Autos. Die Identitäre Bewegung bleibt dabei, dass es sich um einen „islamistischen“ Anschlag handele, den nur „Remigration“ hätte verhindern können. Dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wird das erfundene Zitat in den Mund gelegt, es gelte, „die tatbegehende Person nicht zu denunzieren und sich ruhig und geduldig die Gründe anzuhören“. Offene Grenzen trügen „zur Sicherheit bei“. Antiisraelische und antisemitische Quellen verbreiten derweil das Gerücht, der israelische Geheimdienst stecke hinter dem Anschlag, berichtet der in Österreich gegründete Verein „Mimikama“, der Desinformation im Netz beobachtet und widerlegt, auf seiner Website. Türkische Nationalisten wiesen die Verantwortung „kurdischen Milizen“ zu.

Je mehr Ideologie, desto weniger zählen die Fakten

Das Böse braucht ein Gesicht, es braucht einen Namen und eine Adresse. Wie diese lautet, wissen die Fake-News-Macher schon im Vorhinein. Der Staat ist schuld, die Demokratie, der politische Gegner. Je mehr Ideologie im Spiel ist, je gefestigter Doktrin und Feindbilder, desto weniger zählen die Fakten, desto eindeutiger fällt das Urteil aus. Sie fluten die digitale Welt mit Fake News, Desinformation und Lügen. Und niemals fehlt der Verweis, dass die etablierten Medien diese „Wahrheiten“ verschwiegen.

Doch wo postete Taleb Al A. seine wirre These, dass Deutschland saudischen Flüchtlingen, insbesondere Frauen, nicht helfe, sondern sie verfolge und Europa „islamisieren“ wolle? Unter dem Rubrum eines Schnellfeuergewehrs auf Elon Musks Plattform X. Und das offenbar ungestört, wie Hans-Jakob Schindler vom Counter Extremism Project (CEP), einer NGO, die sich dem Kampf gegen Extremismus und Terrorverherrlichung im Netz verschrieben hat, im Gespräch mit „Ippen-Media“ kritisiert. „Leider sind die sozialen Medien voll von Hass und Gewaltphantasien, und die Situation verschlimmert sich stetig. Gerade X hat ja in den letzten Monaten seine Content-Moderation reduziert, nicht verbessert“, sagt er. Taleb Al A. hat auf Twitter beziehungsweise X seit seiner Anmeldung im März 2016, wie der Mitteldeutsche Rundfunk nachgezählt hat, 121.378 Posts abgesetzt.

„Wenn mir die Gesetze also nicht erlauben, mich selbst zu schützen, und die Regierung selbst – statt mich zu schützen – zur Kriminellen wird, die Polizei selbst kriminell ist, dann betrachte ich in diesem Fall die deutsche Nation, betrachte ich die deutschen Bürger als verantwortlich für das, was mir passiert“, schrieb Taleb Al A. Seine letzten Einträge stammen vom 20. Dezember, dem Tag, an dem er seinen Mietwagen in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg steuerte.

So schließt sich der Kreis des Terrors. Die AfD hat für Montag zu einer Großkundgebung in Magdeburg aufgerufen.

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