Kultur

Realitätsverweigerung in Ostmark: Freie Fahrt für Kickl? | ABC-Z

Österreichs geplante Ampelregierung hat einen Totalschaden, bevor sie überhaupt einmal geblinkt hat. Der Austritt der liberalen Neos aus den seit Oktober laufenden Verhandlungen mit der christlich-konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen SPÖ löste einen Dominoeffekt aus.

Binnen eines Tages scheiterte auch der Versuch der beiden verbliebenen Parteien, eine Notregierung mit einer Stimme Mehrheit im Parlament auf die Beine zu stellen. Sie konnten sich nicht auf die Sanierung des defizitären Staatshaushaltes und Strukturreformen etwa in der Rentenpolitik einigen. Die Wirtschaftskrise wird nun durch eine politische Krise verstärkt.

Der Strudel der Ereignisse riss den Bundeskanzler und Vorsitzenden der Christdemokraten in die Tiefe: Karl Nehammer hat seinen Rücktritt von allen Ämtern angekündigt. Ob sich der umstrittene SPÖ-Vorsitzende und Parteilinke Andreas Babler halten kann, wird sich zeigen. Beide Parteien, die Jahrzehnte das Land regierten, haben abgewirtschaftet. Österreich steht vor einer Zeitenwende.

Schwache Verfassung der Wirtschaft

Beate Meidl-Reisinger, die Chefin der Neun-Prozent-Partei Neos, wird sich bestätigt sehen. Die Art, wie sie die Notbremse zog, erinnert den Abbruch der schwarz-grün-gelben Koalitionsgespräche 2017 in Berlin, als FDP-Chef Christian Lindner erklärte: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Die Bildung einer reformorientierten Regierung gelingt eben nicht, wenn der politische Wille nur dazu reicht, eine andere Regierung zu verhindern.

In diesem Falle wäre das eine unter der rechtspopulistischen FPÖ, die in der Nationalratswahl mit 29,3 Prozent die meisten Stimmen gewann und in Umfragen weiter zulegt. Dass Neuwahlen eine bessere Alternative zum Eintritt der ÖVP in eine FPÖ-geführte Regierung wären, erscheint vor dem Hintergrund fraglich. Neuwahlen kosten auch Zeit, die das Land besser nutzen sollte.

Österreichs politische Krise spielt sich vor einer alarmierenden Verfassung der Wirtschaft ab, die in das dritte Rezessionsjahr eintaucht. Gesundheits- und Rentensystem drohen – wie in Deutschland – Überlastungen. Die öffentlichen Finanzen sind überdehnt, die EU plant ein Defizitverfahren – gegen das Land, das in Brüssel anderen so gerne das Sparen empfohlen hat. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Produktivität sinkt. Gründe genug, den hinlänglich diagnostizierten Reformstau anzugehen, Wachstumskräfte freizulegen: Lohnnebenkosten zu reduzieren, arbeitsfeindliche Fehlanreize im Steuersystem zu beseitigen, das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen, Bürokratie zu beseitigen und überbordende Staatshilfen für Verbraucher und Unternehmen zurückfahren.

Mit der SPÖ war das nicht möglich. Aber das Umverteilen von Wohlstand schafft nicht mehr Wachstum für alle. Nicht einmal dem Ziel, das faktische Renteneintrittsalter bis 2030 auf 63,5 Jahre heraufzusetzen, wollten Österreichs Sozialdemokraten zustimmen, vom Plan der Einführung einer Rente mit 67 ganz zu schweigen. Wie groß kann die Realitätsverweigerung noch sein? Wo bleibt der in Österreich gern zitierte „Hausverstand“?

Wie klein der Wille ist, drängende Themen überhaupt anzugehen, zeigt die Debatte über den Abbau des Etatdefizits, das 2024 wieder nahe vier Prozent des Bruttoinlandproduktes und damit über der EU-Grenze von drei Prozent liegt. Auch das Staatsdefizit mit fast 80 Prozent übersteigt die Maastricht-Vorgabe. Daher müssten in den nächsten vier bis sieben Jahre 15 bis 24 Milliarden Euro eingespart werden. Doch die Devise lautet: Je weniger, umso besser und je später, je lieber. Schlagen nicht auch Frankreich, Italien und Griechenland schon lange über die Stränge?

Große Übereinstimmung zwischen FPÖ und ÖVP

Dabei unterzeichnen die Defizitzahlen die wahre Misere, liegt der Verteidigungsanteil Österreichs doch nur bei 0,8 Prozent der Wirtschaftsleistung, statt der in der NATO vorgegeben zwei Prozent. Auf die Weise kann das nicht der NATO angehörende, doch implizit deren Schutz genießende EU-Mitglied als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer jedes Jahr Milliardenbeträge etwa in die Rentenversicherung stecken.

Der Vergleich der Wahlprogramme und wirtschaftspolitischen Ziele zeigt große Übereinstimmung zwischen FPÖ und ÖVP. Mit dem Abtritt Nehammers macht er, der seine Mitwirkung in einer Regierung unter dem FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl ausgeschlossen hat, den Weg in eine solche frei. Weite Teile der Wirtschaft liebäugeln schon länger damit. Doch ein Bundeskanzler Herbert Kickl, bekennender EU-Skeptiker und Anhänger des illiberalen ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, bliebe nicht nur wegen der europapolitischen Folgen ein gewagtes Experiment.

Back to top button