Kultur

Rassismus in Amerika: Wie eine Sechsjährige die Rassentrennung überwand | ABC-Z

Die Schlieren einer Tomate fallen erst nach ein paar Sekunden auf. Auch das N-Wort, in hellem Grau an die Wand gemalt, nimmt der Betrachter nur auf den zweiten Blick wahr. Das afroamerikanische Mädchen mit Zöpfen, weißem Kleid und Schulheften unter dem Arm zieht die Blicke derweil fast magisch an – vielleicht wegen der Selbstverständlichkeit, mit der es an Tomate und Schimpfwort vorbeigeht, vielleicht aber auch wegen der vier Justizbeamten mit den gelben Armbinden, die es eskortieren. Der Illustrator und Maler Norman Rockwell, bis dahin bekannt für eher kitschige Motive des amerikanischen Familienalltags, hatte sich Anfang der Sechzigerjahre für sein Bild „The Pro­blem We All Live With“ von dem Aufschrei um Ruby Bridges inspirieren lassen. Der erste Schultag der Schwarzen in einer weißen Grundschule im Südstaat Louisiana, den Rockwells Werk zeigt, gilt bis heute als Meilenstein der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.

Für Bridges war der 14. November 1960 ein Tag des Hasses und der Ablehnung. „Als das Auto, das mich zur Schule brachte, um die Ecke bog, sah ich un­zählige Demonstranten am Straßenrand. Überall standen Polizeibeamte. Ich wurde sofort in das Büro des Direktors gebracht“, erinnerte sich Bridges. Während sie den ersten Schultag in der Grundschule William Frantz an der North Galvez Street in New Orleans geschützt von Beamten in dem Büro verbrachte, beobachtete „Ruby“, wie eine Mutter nach der anderen das Schul­gebäude betrat und nach einigen Minuten mit einem Kind an der Hand wieder verließ. „Sie zeigten mit dem Finger auf mich“, sagte Bridges bei einem Interview mit dem Norman Rockwell Museum in Stockbridge in Massachusetts.

Sie ahnte nichts von den Kämpfen

Von den Kämpfen, die ihrem Spieß­ruten­lauf damals vorausgegangen waren, ahnte die Sechsjährige nichts. Im Frühjahr 1954 hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt. Dass der Supreme Court auch entschied, das Nebeneinander von schwarzen und weißen Schülern sei „mit wohlüberlegter Geschwindigkeit“ umzusetzen, bot Anlass für Aus­ei­nan­dersetzungen. Nach einem langen Schlag­abtausch zwischen konservativen weißen Abgeordneten in Louisiana, der Schulverwaltung in New Orleans und der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) setzte ein Bundesgericht schließlich eine letzte Frist. Bis zum 14. November 1960, einige Wochen nach Beginn des Schuljahres, mussten alle traditionell weißen Bildungseinrichtungen wie William Frantz Kinder mit dunkler Hautfarbe zulassen.

Die NAACP begann, afroamerikanische Eltern zu suchen, die bereit waren, ihren Nachwuchs auf eine weiße Schule zu schicken. In der Familie Bridges stieß der Aufruf auf gemischte Resonanz. Vater Abon, ein Automechaniker und Tagelöhner, lehnte Rubys Besuch der William Frantz Elementary ab. Mutter Lucille, eine Tochter armer Farmpächter aus Mississippi, hoffte auf eine Signalwirkung. „Ich wollte, dass meine Kinder es besser haben als wir. Ich wollte, dass meine Kinder zur Schule gehen konnten, um zu lernen“, sagte ­Lucille Bridges später. Auch der wenig freundliche Empfang ihrer Tochter durch Weiße, die Eier und Tomaten warfen, blieb ihr in Erinnerung. Ruby hielt die Demonstranten derweil für Menschen in Feierlaune. Als Kind war sie in New Orleans mit Karnevalsumzügen aufgewachsen. „Für mich sah es aus wie Mardi Gras: weiße Menschen und schwarze Menschen, die gestikulierten, schrien und Dinge warfen“, sagte Bridges dem Sender NPR.

Nach dem „Walk to School“ wurde es erschreckend still. Da sich Schulleitung und Eltern weigerten, weiße Kinder mit Ruby zu unterrichten, verbrachte sie die Tage allein mit Barbara Henry, einer weißen Lehrerin aus Massachusetts, in einem Klassenzimmer im ersten Obergeschoss. Die Pausen wurden so gelegt, dass Bridges auf dem Hof nicht auf andere, weiße Schüler traf. „Frau Henry versuchte mit aller Kraft; von mir fernzuhalten, was sich draußen abspielte. Aber es gelang mir nicht; zu verdrängen, dass es für mich keine anderen Kinder gab“, erinnerte sie sich mehr als 40 Jahre später bei einer Rede in der Memorial Church der Universität Harvard.

„Niemand sprach mehr darüber“

Nach einem einsamen Schuljahr wurde in der zweiten Klasse plötzlich alles anders. Ruby wurde zusammen mit weißen und schwarzen Kindern unterrichtet. Henry verließ die William Frantz Elementary, nachdem ihr Vertrag nicht verlängert worden war. „Es schien, als wäre dieses erste schwere Jahr der Aufhebung der Rassentrennung nie passiert. Niemand sprach mehr darüber“, schrieb Bridges in der religiösen Zeitschrift „Guideposts“.

Auch für sie ging das Leben weiter. Nach dem Abschluss der William-Frantz-Grundschule besuchte sie eine High School, ließ sich zur Reisebürokauffrau ausbilden, heiratete und bekam vier Söhne. Rockwells „Das Problem, mit dem wir alle leben“ wurde in den Neunzigerjahren zum Impuls, sich gegen die Benachteiligung von Schwarzen einzusetzen. „Als ich das Bild zum ersten Mal sah, wurde mir bewusst, dass es um etwas Größeres ging als mich“, erinnerte sich Bridges. Im Jahr 1999 gründete sie eine Stiftung, die Schülern Toleranz, Respekt und das Annehmen anderer Menschen näherbringt. „Rassismus ist eine Krankheit von Erwachsenen. Wir müssen aufhören, sie durch unsere Kinder verbreiten zu lassen“, fasste die Einundsiebzigjährige die Aufgabe der ­Ruby Bridges Foundation zusammen.

Bei Interviews, Podcasts und Schulbesuchen erinnert Bridges immer wieder an den Moment vor 65 Jahren, den Rockwell einfing. 2011 schaffte es „The Problem We All Live With“ auch in das Weiße Haus. Bei Bridges’ Besuch lobte Barack Obama, der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten, ihren Einsatz gegen Rassentrennung und Vorurteile. „Man kann sagen, dass ich ohne Menschen wie euch nicht hier wäre“, sagte Obama, während er Rockwells Werk zusammen mit der Bürgerrechtlerin an der Wand zum Oval Office betrachtete.

Bridges’ Engagement in­spirierte einige Jahre später auch eine Gruppe von Fünftklässlern in South San Francisco. Sie sammelten Unterschriften, sprachen bei der Schulbehörde des Bezirks San Mateo vor und ließen den 14. November mit Unterstützung des kalifornischen Senators Josh Becker zum „Ruby Bridges Walk to School Day“ ausrufen. Wie in den vergangenen Jahren werden auch am Freitag wieder einige Hunderttausend Kinder in Kalifornien und weiteren Bundesstaaten zur Schule laufen, um an Bridges’ ersten Schultag zu erinnern – 65 Jahre später, ohne Tomaten, Eier oder Beschimpfungen.

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