Radikalisierung mit System: „Abschiebetickets zeigen AfD-Taktik par excellence“ | ABC-Z
Die AfD Karlsruhe verteilt Tausende „Abschiebetickets“ in Briefkästen. Adressiert sind sie laut dem Flyer an „illegale Einwanderer“ und der auf jedem „Ticket“ angegebene Sitzplatz „P51“ erinnert stark an Paragraf 51 im Aufenthaltsgesetz – das Erlöschen des Aufenthaltstitels. Urheber einer ähnlichen Aktion ist die NSDAP: 1933 verteilten die Nationalsozialisten „Zugtickets“ zur Ausreise aus Deutschland an Jüdinnen und Juden. In Karlsruhe ermittelt mittlerweile die Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung. Die AfD verteidigt ihre „Tickets“ hingegen als rechtmäßige Aktion, immerhin stünden auf der Rückseite politische Forderungen. Diese Reaktion unterstreiche das taktische Vorgehen der Partei einmal mehr, sagt der Verfassungsrechtler Emanuel V. Towfigh im Gespräch mit ntv.de. Staat und Politik müssten daher mutiger werden – und der Radikalisierung der Partei mit dem einzig effektiven Mittel entgegentreten: dem Parteiverbotsverfahren. Die Chance für ein Verbot durch Karlsruhe sei hoch, sagt Towfigh. Bisher hapert es allerdings an Berlin.
ntv.de Wie schon die NPD 2011 und die NSDAP in den 1930er-Jahren verteilte die AfD Karlsruhe jüngst tausende „Abschiebetickets“ mit dem Vermerk „illegaler Einwanderer“ in Briefkästen. Ist eine solche Aktion im Wahlkampf erlaubt?
Emanuel V. Towfigh: Durch diesen Fall wird zunächst einmal deutlich, wie sehr unsere Demokratie auf gutwillige Akteure angewiesen ist. Denn: Grundsätzlich sind die Grenzen im Wahlkampf bei uns eher weit. Zum einen schützt das Grundgesetz die freien, gleichen und unbeeinflussten Wahlen. Einflussnahme soll also in jedem Fall vermieden werden. Die Gefahr bestünde natürlich, wenn Gerichte Aktionen oder Äußerungen unterbinden. Zum anderen bedeutet Demokratie ja gerade Wettkampf zwischen unterschiedlichen Meinungen und Positionen – da darf man im Wahlkampf auch mal über die moralischen Stränge schlagen. Die Grenze ist natürlich immer das Strafgesetzbuch. Was strafbar ist, ist nicht mehr erlaubt.
Ist das Verteilen der AfD-„Abschiebetickets“ strafbar?
Das prüft derzeit die Staatsanwaltschaft in Karlsruhe. In Betracht kommt, dass die Tickets und das Einwerfen in die Briefkästen volksverhetzend sind, also zum Hass gegen Menschen mit Migrationshintergrund aufstacheln und die Menschenwürde dieser Gruppe verletzen. Es gibt Berichte darüber, dass die Tickets vor allem in Gegenden eingeworfen wurden, wo Menschen mit Migrationshintergrund wohnen. Sollte sich das bestätigen, wäre das eine deutliche Zuspitzung und die Einstufung als Volksverhetzung noch wahrscheinlicher.
Die AfD verteidigt ihre Aktion als „völlig gesetzeskonform“. Entscheidend sei, dass hinten auf dem „Ticket“ die politischen Forderungen der Partei abgedruckt sind. Hat sie damit recht?
In erster Linie zeigen die Abschiebetickets und die Reaktion der Partei die AfD-Taktik par excellence: Die Partei kennt die rechtlichen Grenzen genau und spielt mit ihnen. Denn natürlich weiß auch die AfD, dass sie mit den Tickets an die Grenzen der Grundrechte und Strafbarkeit geht, möglicherweise darüber hinaus. Darauf angesprochen, beruft sie sich aber – angeblich nichtsahnend – auf ihre Wahlforderung, Menschen ohne Aufenthaltstitel abzuschieben , und wer könne da schon etwas gegen haben? Diesen Trick, dieses Vorgehen, nennt man Plausible Deniability, also plausible Leugnung. Man geht kommunikativ bis an die Grenze und sagt dann: Das war doch gar nicht so gemeint – ihr lest das im denkbar schlechtesten Licht. Denn genau das würde unserem Rechtsstaatsprinzip widersprechen: Weil die Grundrechte einen so hohen Stellenwert haben, soll der Staat mit Beschränkungen äußerst zurückhaltend sein, also etwa soweit irgend möglich die Meinungsfreiheit unangetastet lassen. Wenn es im Fall der „Abschiebetickets“ nun also mehrere Auslegungsmöglichkeiten gibt und eine davon möglicherweise nicht volksverhetzend ist, wählt er grundsätzlich diese. Allerdings ist der Staat auch nicht gezwungen, auf einen Trick hereinzufallen. An diesem Punkt sind wir mit der AfD nun.
Inwiefern?
Das „Abschiebeticket“ reiht sich in etliche Fälle, in denen die Partei an die Grenze des Sagbaren, vielleicht darüber hinaus, geht. Man denke dabei etwa an Björn Höcke und seinen Strafprozess wegen Volksverhetzung. Immer wieder nutzen Akteure der Partei historische Parallelen und nationalsozialistische Begriffe und bedienen damit ein rechtsradikales, extremistisches Milieu, um sich anschließend gegenüber den bürgerlichen, liberalen Zuhörern und vor allem gegenüber der Staatsgewalt ahnungslos zu stellen. Der Staat muss anfangen, all diese Aktionen und Äußerungen in der Zusammenschau zu betrachten. Dann nämlich ist die Grenze der plausiblen Leugnung überschritten. In der Gesamtbetrachtung aller Äußerungen der Akteure wird ganz klar, was eigentlich gemeint ist. Dann kann die Strategie der AfD, das Ahnungslosstellen und auf die bestmögliche Auslegung pochen, nicht mehr wirken. Dazu gehört nun auch das „Abschiebeticket“, für die ja auch ein offizieller Landesverband der Partei, der sogar Kanzlerkandidatin Weidel angehört, verantwortlich ist.
Selbst wenn ein Gericht die „Abschiebetickets“ verbietet, passiert das weder morgen noch kommende Woche. Bis die Staatsanwaltschaft ermittelt hat, Anklage erhebt und ein Verfahren über die Bühne geht, werden die Stimmzettel längst ausgefüllt sein. Hat die Aktion damit überhaupt Konsequenzen für die AfD?
Realistisch gesehen wird die Aktion in diesem Wahlkampf keine Konsequenzen haben. Einzelne Akteure könnten, wenn die Gerichte den Tatbestand der Volksverhetzung als erfüllt ansehen, natürlich zur Verantwortung gezogen werden. Allerdings dürfte das erst nach dem Wahlkampf und ohne große Auswirkungen für die Partei passieren.
Nun sind die „Abschiebetickets“ nur ein Teil der weiteren Radikalisierung der AfD. Man denke an die besonders aggressive Parteitagsrede von Alice Weidel oder ihre Behauptung, Adolf Hitler sei ein Kommunist gewesen. Die Empörung ist nach diesen Äußerungen stets groß, doch wenn sie verpufft, dreht sich die Radikalisierungsspirale der Partei einfach weiter. Was kann der Staat dem entgegensetzen?
Im Prinzip hat er zwei Hebel. Einzelne Akteure und Äußerungen kann er, wie beschrieben mit dem Strafrecht verfolgen, das haben wir bei den volksverhetzenden Aussagen von Höcke gesehen. Allerdings löst dieser Weg nicht das eigentliche Problem. Denn das besteht darin, dass eine politische Bewegung die institutionellen Möglichkeiten, die der Staat politischen Parteien gewährt, nutzt, um sich gegen die Kernwerte unserer Verfassung zu richten. Das betrifft zum einen die Unantastbarkeit der Menschenwürde, also die verfassungsrechtlich verbriefte Überzeugung, dass alle Menschen, egal wer, wie und wo sie sind, gleich sind. Zum anderen betrifft das die Akzeptanz für unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen, also die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Die AfD kämpft gegen diese Werte – und zwar mithilfe der Parteienfinanzierung, Stiftungen, der Gleichbehandlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, um nur einige Mittel von politischen Parteien zu nennen. Dieses Problem lässt sich nicht mit den Mitteln des Strafrechts lösen. Vielmehr gibt es für genau diesen Fall den zweiten Hebel.
Das Parteiverbotsverfahren?
Richtig. Dieser Hebel ist eine Besonderheit der deutschen Verfassung vor dem Hintergrund der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrorregimes. Denn das, was den Nationalsozialismus so gefährlich machte, war ja, dass die verfassungsfeindlichen Ideen politisch organisiert wurden und schließlich mit den Mitteln des Rechts Macht erlangten.
Aus einem entsprechenden Antrag im Bundestag ist bisher allerdings nichts geworden. Kritiker fürchten unter anderem, dass eine Niederlage in Karlsruhe die Partei nur weiter stärken würde. Karlsruhe verlangt, dass die Partei im Ganzen die freiheitlich demokratische Grundordnung abschaffen will. Das könnte der AfD in der Tat schwerer nachzuweisen sein als damals der NPD. Im Wahlprogramm schreibt die AfD etwa explizit, sie sei eine Partei „zur Wahrung der Demokratie“.
Bei der Bewertung der Bestrebungen einer Partei durch das Bundesverfassungsgericht kommt es allerdings nicht auf das Wahlprogramm an. Das allein rettet die AfD nicht. Vielmehr geht es um die tatsächliche politische Ausrichtung. Und bei dieser Bewertung spielt nun die vorhin erwähnte Gesamtschau eine wichtige Rolle: Wir müssen die Gesamtheit der Aussagen und Forderungen in den Blick nehmen – dann ist es nicht mehr plausibel, dass es sich nicht um etliche Ausrutscher handelt, sondern es wird klar, dass dahinter eine ausgefeilte Strategie steckt. Den allermeisten Menschen wird zwar bereits klar sein, dass sich die AfD hinter Schutzbehauptungen versteckt, allerdings sind wir – auch wegen der hohen Bedeutung der Meinungsfreiheit – sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Grenzverletzungen klar zu benennen. Da müssen wir ein bisschen mutiger werden.
Ein Antrag auf Verbot der AfD in Karlsruhe hätte also Erfolg?
Davon waren wir, eine Gruppe von 18 Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtlern, schon im vergangenen November überzeugt. Die jüngsten Äußerungen von Alice Weidel, der Umgang mit der Jugendorganisation, die „Abschiebetickets“ – all dies unterstreicht diese Einschätzung nur. Es zeigt sich wieder und wieder: Die AfD ist eine extremistische Partei, die die Menschenwürde nicht anerkennt und Axt an unsere demokratischen Institutionen anlegen will. Das sind die leuchtend roten Linien unserer eigentlich sehr liberalen politischen Ordnung. Und die sollten wir auch verteidigen, wie es die Verfassung vorgibt.
Abgesehen von einem möglichen juristischen Erfolg: Wäre es überhaupt vertretbar, eine Partei, hinter der derzeit 20 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung steht, zu verbieten?
Die Frage kann man auf zwei Ebenen beantworten. Rein juristisch haben wir uns als Gesellschaft auf die Verfassung geeinigt. Da steht nun einmal drin, dass Parteien, die es auf die freiheitliche demokratische Grundordnung abgesehen haben, verboten werden müssen. So gesehen haben wir also nicht einmal taktischen Spielraum, da müssten wir schon die Verfassung ändern. Rechtspolitisch sieht die Sache vielleicht weniger eindeutig aus. Allerdings halte ich ein Verbot auch rechtspolitisch für notwendig – gerade weil die Partei bei 20 Prozent steht.
Warum?
Laut Bundesverfassungsgericht wird eine Partei, die es auf die freiheitliche demokratische Grundordnung abgesehen hat, nur dann verboten, wenn sie „Potenzialität“ aufweist. Das bedeutet: Sie muss eine realistische Gefahr für die Demokratie sein. Bekannt wurde diese Voraussetzung vor allem in der Entscheidung zum NPD-Verbot – damals wurde gesagt, die Partei ist zu klein, der Einfluss zu gering, um gefährlich zu sein. Somit liegt die Notwendigkeit für ein AfD-Verbot meiner Meinung nach in der Natur der Sache. Denn wann ist eine Partei gefährlich? Wenn sie entsprechenden Zustrom hat. Das dürfte bei 20 Prozent in den Umfragewerten der Fall sein. Natürlich birgt ein Verbot große gesellschaftliche Risiken – vor allem bei einer so großen Anhängerschaft der AfD. Ich halte die Verteidigung des Rechtsstaates und seiner Institutionen allerdings für notwendig – und mit wachsender Bedeutung sogar umso dringlicher. Denn die umgekehrte Kontrollüberlegung muss man ja auch anstellen: Was ist, wenn man die Partei gewähren ließe? Das möchte ich mir gar nicht ausmalen, diese Gefahren sind meines Erachtens weitaus größer als die mit einem Verbot verbundenen Risiken.
Viele der AfD-Anhänger werfen dem Staat schon jetzt vor, viel autoritärer zu sein, als er sich gibt. Das dürfte mit einem Verbot durch eine staatliche Institution nicht besser werden.
Die Schwierigkeit ist natürlich, dass wir einerseits nicht wollen, dass die Mehrheit eine Minderheit aus dem politischen Wettbewerb drängt. Auf der anderen Seite sehen wir ja, dass wir ein Instrument der wehrhaften Demokratie brauchen. Genau das ist das Parteiverbotsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht ist ein unparteiischer Schiedsrichter, der – unabhängig von politischen Meinungen und Mehrheiten – entscheiden würde, inwiefern die AfD extremistische Bestrebungen verfolgt.
Nun wird es vor den Wahlen und der neuen Zusammensetzung des Bundestags nicht mehr zu einem Verfahren in Karlsruhe kommen. Inwiefern hat die vorgezogene Bundestagswahl einen Antrag und ein mögliches AfD-Verbot durch das Bundesverfassungsgericht konterkariert?
Es ging bei dem Verbotsverfahren auch schon vor der Vertrauensfrage und dem Ampel-Aus um die Wahl 2029. Realistisch gesehen, gab es nie eine nennenswerte Chance, vor der Wahl 2025 eine Entscheidung aus Karlsruhe in dieser Frage zu bekommen. Das wäre auch bei einer Wahl Ende 2025 nicht anders gewesen. Ein Verbotsverfahren vor der Wahl 2029 ist hingegen zumindest zeitlich realistisch.
Allerdings müsste entweder die Bundesregierung, die einfache Mehrheit im Bundestag oder der Bundesrat einen Verbotsantrag stellen. Das dürfte in der kommenden Legislaturperiode noch schwieriger werden. Zum einen, weil die AfD an Sitzen gewinnen dürfte und zum anderen, weil Kanzlerkandidat Friedrich Merz einem Verbotsantrag bisher kritisch gegenüberstand.
Sollte es weder aus der Regierung noch aus der Mitte des Bundestages oder aus dem Bundesrat zu einem Antrag kommen, blieben dem Staat nur punktuelle Mittel gegen einzelne Akteure der AfD. In anderen Worten: Abgesehen vom Parteiverbotsverfahren hat der Staat der Radikalisierung der AfD nichts Effektives entgegenzusetzen.
Mit Emanuel V. Towfigh sprach Sarah Platz