Radikale Kultautorin: Die Japanerin Sayaka Murata | ABC-Z

In den Romanen und Kurzgeschichten der japanischen Schriftstellerin Sayaka Murata ist nichts normal. Den Ehemann küssen – wer käme auf so eine widerliche Idee? Menschen bestatten – warum isst man sie nicht auf? Nicht nur passieren bei Murata Dinge, die nicht der Norm entsprechen (das auch), Konventionen und Normen werden ganz grundsätzlich infrage gestellt. „Normalität ist der schrecklichste Wahnsinn, den es gibt“, heißt es in „Schwindende Welt“, einem Roman, der gerade auf Deutsch erschienen ist. An diesem Wahnsinn arbeitet sich Murata in ihren Texten immer wieder ab.
Sayaka Murata wurde 1979 in der japanischen Präfektur Chiba geboren. Später zog sie mit ihren Eltern nach Tokio, wo sie immer noch lebt und lange Jahre in einem Kombini, einem kleinen Supermarkt, arbeitete. Diese Umgebung, der Alltag einer Kombini-Angestellten, die sich den gesellschaftlichen Erwartungen, Karriere zu machen und eine Familie zu gründen, widersetzt, war das Thema ihres Romans „Die Ladenhüterin“. Es war das erste von Muratas Büchern, das aus dem Japanischen übersetzt wurde, nachdem es sich dort über eine Million Mal verkauft hatte, und dann international zum Bestseller wurde. Und obwohl auch hier gesellschaftliche Normen hinterfragt werden, ist es doch eines ihrer konventionelleren Bücher.
„Schwindende Welt“ dagegen erschien in Japan noch vor „Die Ladenhüterin“ und stellt deutlich radikaler alles infrage, was man als unsere grundsätzlichen gesellschaftlichen Vereinbarungen bezeichnen könnte: Liebe, Familie, Geschlechterrollen. Er erzählt von Amane, einer jungen Frau, die mit einer Mutter aufwächst, die noch an Liebe und Partnerschaft glaubt. Amane ist einer der wenigen Menschen, die durch Geschlechtsverkehr gezeugt wurden. Inzwischen lehnen die meisten in der Gesellschaft Sex ab, leben in platonischen Beziehungen mit ihren Ehepartnern und masturbieren zur Vorstellung imaginärer Liebhaber aus der Comic- und Animewelt. Fortpflanzung findet über künstliche Befruchtung statt. Selbst diese Welt, in der das Konzept Familie immer noch eine große Bedeutung hat, auch wenn Ehepartner wie Mitbewohner zusammenleben, ist im Roman aber ein Auslaufmodell.
Das Interessante: Muratas Texte kritisieren die Gegenwart aber auch ihre Alternative
In der Präfektur Chiba wird die Modellstadt „Experimenta“ gegründet, in der eine seltsame Mischung aus Individualismus und absolutem Konformismus herrscht. Familien oder Zusammenleben gibt es nicht mehr, jeder bekommt von der Stadtverwaltung ein Ein-Zimmer-Apartment zugewiesen. Kinder können von Männern und von Frauen geboren werden, die sie jedoch nicht aufziehen, sondern der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Jeder Bewohner von „Experimenta“, egal ob Mann oder Frau, ist „Mutter“ und versorgt Schwärme von Kindern, die in Einrichtungen leben und voneinander nicht mehr zu unterscheiden sind. Masturbiert wird in sogenannten Clean Rooms am Bahnhof, bis auch sexuelle Bedürfnisse irgendwann wahrscheinlich überwunden sein werden. Es ist, trotz gewisser emanzipatorischer Fortschritte, eine ziemlich gruselige Dystopie.
Deren Beschreibung ist nicht immer sonderlich subtil. Die Absurdität bestimmter Regeln und Konventionen legt Murata ihren Leser nicht implizit nahe, vielmehr werden sie in den Romanen klar benannt. Was genau „normal“ ist oder irgendwann dann nicht mehr, wird zwischen den Figuren offen diskutiert, eingeschobene Fernsehbeiträge dienen dazu, die Regeln von „Experimenta“ auch den Lesern in prägnanten Zusammenfassungen mitzuteilen. Oft ist in Muratas Büchern von einer „Gehirnwäsche“ die Rede, die dem Großteil der Gesellschaft verpasst worden ist. Die Protagonistinnen, alle Außenseiterinnen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, kritisieren diese „Gehirnwäsche“ nicht immer, oft sehnen sie sie geradezu herbei, um sich endlich so verhalten zu können wie alle anderen auch. Doch es gelingt ihnen nicht. Sie empfinden Abneigung, ja manchmal geradezu Ekel vor der Lebensweise, die der Rest der Welt für normal hält. Besonders explizit wird das in Muratas Roman „Das Seidenraupenzimmer“, in dem die Hauptfiguren sich als Außerirdische begreifen, die irgendwann beschließen, sich von der restlichen Gesellschaft abzugrenzen und nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben.
Das Interessante an Muratas Texten ist, dass sie keine Antwort darauf geben, wie ein besseres gesellschaftliches Zusammenleben aussehen könnte. Sie kritisieren den Status quo, doch auch die Alternative, eine radikale Umkehr dieser Vorstellungen, wird auf abschreckende Weise auf die Spitze getrieben. In „Das Seidenraupenzimmer“ bezeichnet sich die Protagonistin als Alien – in Abgrenzung zu den „Erdlingen“, die sie umgeben, in identischen Wohneinheiten als Familie leben und Kinder für „die Firma“ (die Gesellschaft) produzieren. Doch als sie, ihr Mann und ein Kindheitsfreund in das alte Haus der Großeltern in einem abgelegenen Dorf ziehen, zeigt sich, was passiert, wenn die geltenden gesellschaftlichen Regeln und Zwänge auf einmal wegfallen: nichts Gutes.
Man könnte sich fragen, ob eine Welt ohne Konventionen überhaupt existiert. In „Schwindende Welt“ heißt es dazu: „Ich dachte (…) an die Welt von gestern, als die Werte, die in unserem Haus galten, der allgemeinen Überzeugung entsprachen. Es war unheimlich, aber auch jetzt waren wir in einem von bestimmten Werten beherrschten Raum eingeschlossen. So gesehen hatte sich also gar nicht so viel geändert.“ Und auch in „Das Seidenraupenzimmer“ versuchen die Figuren zwar zu einer Art Urzustand zurückzukehren, müssen aber dennoch verhandeln, wie genau sie zusammenleben wollen: Ob sie sich sexuell fortpflanzen oder nicht, um nur ein Beispiel zu nennen.
Abschiedsschmerz von lieb gewordenen Dingen existiert auch in unserer Realität
„Schwindende Welt“ ist dystopisch und futuristisch, doch in gewisser Weise nur scheinbar weit weg von der Realität, in der wir leben. Wenn die Figuren einer Zeit hinterhertrauern, die es bald nicht mehr geben wird, in der auch lieb gewordene Dinge in naher Zukunft für immer verschwunden sein werden, lassen sich darin durchaus Analogien zu unserer, ebenfalls im radikalen Wandel begriffenen Realität finden. Den Abschiedsschmerz, in einer Gesellschaft zu leben, in der Liebe, Sex und Familie nicht mehr existieren, diese Dinge aber zu vermissen, weil man mit ihnen aufgewachsen ist, spüren in „Schwindende Welt“ beide, Amane und ihre Mutter. Mit dem Unterschied, dass Amane zumindest versucht, sich anzupassen, und die Mutter mit aller Kraft dagegenhält. Das ist in gewisser Weise ein Kollateralschaden. So stellt Amane trocken fest: „In jedem System wird es immer eine gewisse Anzahl von Unzufriedenen geben, aber ihr Prozentsatz bleibt vermutlich stets ungefähr gleich.“

Man kann sich anhand von Muratas Büchern viele sehr grundsätzliche Fragen stellen: Wie wir zu unserer Normalität kommen und inwieweit wir sie akzeptieren oder gegen sie rebellieren? Welche unserer gesellschaftlichen Regeln sinnvoll und welche nur konventionelle Festlegungen sind, erfunden, um bestimmte Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Frauen) kleinzuhalten? Ob nicht, aus der Distanz betrachtet, unser ganzes Zusammenleben doch sehr seltsam ist, und wie es vielleicht anders sein könnte? Und ob wir nicht trotzdem bestimmte Konventionen brauchen, auch wenn es immer Menschen geben wird, die sie infrage stellen oder unter ihnen leiden?
Natürlich sind all diese Überlegungen nicht grundsätzlich neu, doch Murata provoziert sie auf eine teils so verstörende Weise, dass sie zumindest so erscheinen. Es geht um Kindesmissbrauch, um Kannibalismus. Nichts ist ihr zu abseitig oder zu drastisch, um erzählt und dabei mitunter auch noch einmal ganz neu betrachtet zu werden. Inwieweit müssen wir Grenzen überschreiten, um zu anderen, vielleicht besseren Gesellschaftsformen zu kommen? Und ab welchem Punkt gehen diese Grenzüberschreitungen zu weit?
Romane, die im Kopf bleiben
Sayaka Murata ist nicht die einzige japanische Schriftstellerin, die gerade auch außerhalb Japans erfolgreich ist. Sie reiht sich ein in einen Trend von Büchern, aber auch Serien und Filmen aus Japan und Südkorea. Viele davon enthalten explizite, oft auch ungewöhnliche und drastische Darstellungen von Gewalt und Sexualität, die in der Summe betrachtet das Bild von eher schrägen Gesellschaften vermitteln. Beim Erfolg dieser Bücher und Filme spielt Exotisierung also sicher eine Rolle, die Idee des „anderen“, das wir aus sicherer Distanz betrachten können. Andererseits könnte man sagen, dass diese Autoren und Filmemacher oft einen deutlich interessanteren, abgründigeren Blick auf unsere Gesellschaft richten, als der x-te autobiographisch gefärbte Familienroman, der nur einen winzig kleinen Ausschnitt der Welt beleuchtet. Abweichungen von der Norm gibt es auch außerhalb Japans, nur werden sie in der Literatur selten auf so krasse Weise ausgestellt.
In einer weniger extremen Version sind Außenseiterpositionen außerdem durchaus anschlussfähig. „Die Ladenhüterin“ war wahrscheinlich gerade deshalb ein Erfolg, weil viele Leserinnen die Hauptfigur nicht seltsam fanden, sondern sich mit ihr identifizierten. Dass sie dabei möglicherweise selbst das konventionelle Leben führten, das die Protagonistin mit ihrem Lebensstil hinterfragt, stand dem nicht im Weg.
Man sollte sich von Muratas eingängiger Prosa nicht einlullen lassen oder denken, leichte Lesbarkeit gehe mit mangelnder Subversivität einher. Denn die Romane bleiben länger im Kopf, als man denkt. Und sie haben mehr mit uns zu tun, als uns vielleicht lieb ist.