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Queer-Beauftragter im Interview: “Ich erlebe Diffamierungen, auch von Vertretern der AfD” | ABC-Z

Die Ampelkoalition ernennt in dieser Legislaturperiode erstmals einen Queer-Beauftragten. Sven Lehmann setzt sich für die Belange der LSBTIQ-Community ein und kann einige Vorhaben umsetzen. Doch das abrupte Koalitionsende macht auch ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Gespräch mit ntv.de blickt der Grünen-Politiker zurück – und in die Zukunft.

ntv.de: Ihre Zeit als Beauftragter für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt – kurz Queer-Beauftragter – endet aufgrund der Neuwahlen im Februar früher als geplant. Was hätten Sie noch gerne bewegt, was nun nicht mehr möglich ist?

Sven Lehmann: Am schmerzhaftesten finde ich, dass die Ampel-Koalition es nicht mehr geschafft hat, Regenbogenfamilien im Abstammungs- und Familienrecht zu verankern, sodass lesbische Mütter gleichgestellt werden mit heterosexuellen Eltern und ihre Kinder dadurch auch von Geburt an zwei rechtlich anerkannte Elternteile haben. Bis heute muss nämlich die Ehefrau der leiblichen Mutter das Kind in einem langen Prozess adoptieren. Das muss dringend geändert werden. Der Gesetzentwurf dafür war fertig. Durch die vorgezogene Neuwahl kann das in dieser Wahlperiode leider nicht mehr umgesetzt werden. Das ist vor allem schmerzhaft für die Regenbogenfamilien in diesem Land. Und deswegen muss das nach der Wahl sofort wieder angegangen werden. Denn jeden Tag, wo das nicht in Kraft ist, haben manche Kinder weniger Rechte als andere, bloß weil ihre Eltern zwei Mütter sind. Das ist untragbar.

Sie haben einen Aktionsplan “Queer Leben” aufgesetzt und darin unter anderem festgehalten, dass Sie nach Möglichkeit Artikel 3 im Grundgesetz ändern möchten. Dort soll Absatz 3 um ein explizites Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Identität ergänzt werden. Kann dieses Ziel noch irgendwann umgesetzt werden?

Für die queere Community ist diese Änderung des Grundgesetzes das zentrale Thema, weil es trotz der vielen Fortschritte nach wie vor massive Angriffe im Alltag und auch politische Kräfte gibt, die bestimmte Errungenschaften wieder zurückdrehen wollen. Deswegen wäre es so wichtig, einen ausdrücklichen Diskriminierungsschutz im Grundgesetz zu haben. Die Hürde für eine Ergänzung ist aber sehr hoch. Notwendig ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Hier war sich die Ampel-Koalition einig. Es gab einen fertigen Entwurf und Gespräche mit der CDU/CSU liefen. Ich hätte mir sehr gut vorstellen können, dass es auch gereicht hätte für eine Zweidrittelmehrheit, wenn es im nächsten Jahr im Bundestag zur Abstimmung gekommen wäre.

Und jetzt?

Ich hoffe, dass die Union nach der Wahl auf ihre Ministerpräsidenten wie Kai Wegner in Berlin und Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen hört, die klar gesagt haben, dass sie das Anliegen unterstützen. Das wäre wichtig, fernab jeder parteipolitischen Auseinandersetzung, dass das nach der Wahl wieder angegangen wird. Denn es gibt Kräfte in diesem Land, die wollen beispielsweise das Recht auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare wieder zurücknehmen. Es ist wichtig, diese Errungenschaften auch durch das Grundgesetz zu schützen.

Mit den Kräften meinen Sie die AfD?

Zum Beispiel. Man darf sich nicht von einer Alice Weidel davon täuschen lassen. Als die AfD in den Bundestag einzog, war einer ihrer allerersten Gesetzesentwürfe, die Ehe für alle wieder abzuschaffen. Das sollte niemand vergessen.

Die Sicherheitssituation hat sich für queere Menschen in den vergangenen Jahren laut Statistik verschlechtert. 2023 wurden 1499 Delikte gegen die sexuelle Orientierung polizeilich erfasst. Das stellt einen deutlichen Anstieg zum Vorjahr dar, wo es 1005 Delikte waren. Hat die Regierung dahingehend versagt?

Es ist ja nicht die Regierung, die die Menschen angreift, sondern es sind Menschen im Alltag, die queere Menschen angreifen …

Sie haben sich aber den Schutz dieser Menschen auf die Fahnen geschrieben.

Richtig. Und der Anstieg der Zahlen ist natürlich besorgniserregend. Wenn die statistisch erfassten Zahlen von Hasskriminalität steigen, heißt das aber nicht automatisch, dass es auch mehr Delikte gibt. Sondern es kann auch heißen, dass mehr Angriffe zur Anzeige gebracht werden, sich mehr Opfer auch trauen, zur Polizei zu gehen. Das wiederum wäre ein gutes Zeichen. Es gab immer Mobbing gegen Lesben oder Schwule, Beschimpfungen und körperliche Angriffe auf der Straße. Aber ganz viele Taten sind nicht zur Anzeige gebracht worden, aus Scham. Oder diese Taten wurden nicht ordentlich als Hasskriminalität registriert. Inzwischen ist die Polizei oft sensibler und offener. Aber selbstverständlich kann das auch eine Regierung nicht kaltlassen, wenn Menschen angegriffen werden, weil sie lieben, wie sie lieben, oder sind, wie sie sind. Deswegen haben wir zum Beispiel die Gesetze zu Hasskriminalität verschärft. Hasstaten gegen LSBTIQ* gelten mittlerweile ausdrücklich als menschenfeindliche Straftaten und das kann sich strafverschärfend auswirken.

Das Selbstbestimmungsgesetz, das Sie vor knapp drei Jahren bei uns im Interview für diese Legislatur angekündigt haben, ist seit dem 1. November dieses Jahres in Kraft. Können Sie bereits eine erste Bilanz ziehen?

Ich bin sehr glücklich und stolz, dass wir das geschafft haben. Dieses Selbstbestimmungsgesetz ist sehr wichtig für trans- und intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Menschen. Es betrifft eigentlich eine ganz kleine Gruppe in der Gesellschaft: Pro Jahr rechnet die Bundesregierung mit bis zu 4000 Menschen, die ihren Geschlechtseintrag ändern wollen. Aber die Debatte darum wurde so geführt, als würde der Untergang des Abendlandes drohen. Es gab sehr viele transfeindliche Angriffe, Fake News wurden verbreitet. Ich bin froh, dass die Regierung und der Bundestag Wort gehalten haben. Wir haben eine hohe Zahl von Anmeldungen bei den Standesämtern, weil viele gewartet haben, bis das Gesetz in Kraft tritt. Ich bekomme jeden Tag wirklich sehr emotionale und rührende Nachrichten von transgeschlechtlichen Menschen, die sagen, dass sie sich zum ersten Mal wirklich als gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft fühlen. Sie müssen keine Gerichtsverfahren mehr durchlaufen, werden nicht mehr zum Psychiater geschickt, sondern können nun zum Standesamt gehen und sagen: Das ist mein korrekter Name und mein korrekter Geschlechtseintrag. Die erste Bilanz ist sehr positiv.

Der Wahlkampf für die Bundestagswahl ist schon in vollem Gange. Befürchten Sie, dass gegen Transmenschen Stimmung gemacht wird, so wie es in den USA zum Beispiel geschehen ist?

Ich hoffe, dass in Deutschland die Debatte anders verläuft als beispielsweise in den USA. Ich hätte niemals für möglich gehalten, was dort passiert ist. Bundesstaaten wie Florida haben die Gesetze so geändert, dass an Schulen nicht mehr über LSBTIQ* gesprochen werden darf. Eltern soll das Sorgerecht entzogen werden können, wenn sie ihre transgeschlechtlichen Kinder akzeptieren und unterstützen. Bei den Republikanern von Donald Trump war das ein großes Kampagnenthema. Transgeschlechtliche Menschen wurden als riesige Gefahr dargestellt. Das ist leider global auch zu einem zentralen Kampagnenmotiv der Rechtsextremen geworden. Auch im Deutschen Bundestag kommt es durch Vertreterinnen und Vertreter der AfD immer wieder zu üblen Provokationen, für die Ordnungsrufe ausgesprochen wurden. Ich stelle mich daher darauf ein, dass es bei diesem Wahlkampf auch darum gehen wird, Menschenwürde und Grundrechte von transgeschlechtlichen Menschen und von queeren Menschen allgemein zu verteidigen.

Warum verfängt Transfeindlichkeit so bei bestimmten Personengruppen?

Ich glaube, dass insgesamt Feindlichkeit gegenüber queeren Menschen, also gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen oder transgeschlechtlichen Menschen deswegen verfängt, weil deren Freiheit noch immer ein ganz starkes Feindbild von autoritären, rechtsextremen, aber auch religiös-fundamentalistischen Gruppen ist. Queere Menschen streiten dafür, frei leben und lieben zu dürfen. Die klare Trennung in Mann und Frau ist eine der stärksten Aufteilungen der Menschheit. Wenn dann transgeschlechtliche Menschen oder intergeschlechtliche oder nichtbinäre Menschen in diese Schubladen nicht reinpassen, dann stellt das etwas infrage, was wir alle so gelernt haben. Nämlich, dass es etwa nur Mann und Frau gibt und sonst nichts. Deswegen ist ganz wichtig zu sagen: Transgeschlechtliche Menschen gab es schon immer. Sie haben sich nur oft versteckt oder unterdrückt gelebt. Jetzt werden sie sichtbarer und verlangen politische Teilhabe, Mitsprache und gleiche Rechte. Das ist eine Provokation für die, die ihnen diese Freiheit nicht zugestehen möchten, die ein Problem mit Gleichberechtigung, mit Vielfalt, mit dem Recht auf Selbstbestimmung haben.

“Bundeskanzler Friedrich Merz”: Was macht das mit Ihnen?

Das löst bei mir erstmal keine guten Gefühle aus, weil es in der Vergangenheit Äußerungen von ihm gegeben hat, beispielsweise zum Thema Homosexualität, die ich sehr problematisch fand. Ich habe auch wahrgenommen, dass er und manche aus seiner Fraktion sagen, dass es aus ihrer Sicht nicht notwendig sei, das Grundgesetz zu ändern, um queere Menschen besser zu schützen.

Wird es nach der Bundestagswahl auch weiterhin einen Queer-Beauftragten oder eine Queer-Beauftragte geben?

Seit diesem Jahr ist Deutschland erstmals in den Top Ten in Europa bei der Gleichstellung von LSBTIQ*. Ich hoffe sehr, dass die nächste Bundesregierung – wie auch immer sie aussehen mag – an diese Arbeit anknüpft. Und ich halte es für wichtig, dass das Amt der oder des Queer-Beauftragten erhalten bleibt, ganz unabhängig von meiner Person. Es ist wichtig, dass es für LSBTIQ* eine Ansprechperson in der Bundesregierung gibt, für eine gesellschaftliche Gruppe, der statistisch gesehen immerhin rund neun Millionen Menschen angehören.

Vor einigen Wochen machte die Stadt Neubrandenburg Schlagzeilen, als die Stadtvertreterinnen und -vertreter mehrheitlich dafür stimmten, eine Regenbogenflagge vor dem Bahnhof abnehmen zu lassen. Ein Vorwurf im Neubrandenburger Stadtrat lautete, die Flagge werde genutzt, “um ganz viele Sachen zu sexualisieren”. Ist das Ihrer Meinung nach so?

Nein, das ist natürlich überhaupt nicht so. Die Regenbogenflagge steht für gesellschaftliche Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung. Dass Homosexualität oder CSDs oder Transgeschlechtlichkeit angeblich das Kindeswohl gefährden, das ist ein gängiger Anwurf vor allem von rechtsextremen Gruppen. Den Vorgang in Neubrandenburg bedauere ich wirklich sehr. Der Oberbürgermeister Silvio Witt war in der Bevölkerung sehr beliebt, war mit über 85 Prozent wiedergewählt worden und seine Amtszeit hätte noch einige Jahre gedauert. Auch nach seiner Rücktrittsankündigung gab es in Neubrandenburg viel Solidarität mit ihm. Doch das Maß an persönlichen Anfeindungen als offen schwuler Mann war für ihn trotzdem zu hoch. Ich finde, das ist für die Demokratie insgesamt ein großer Schaden und auch ein Scheitern, wenn demokratisch gewählte Menschen sich eingeschüchtert und bedroht fühlen müssen von rechtsextremen Gruppen.

Silvio Witt, den Sie angesprochen haben, trat nach eigenem Bekunden wegen Unterstellungen, Schmähungen, Beleidigungen und Vorwürfen gegen seine Person und Lebensweise als OB zurück. Erleben Sie ähnliche Anfeindungen auf politischer Ebene?

Ich erlebe solche Anfeindungen zum Glück weitestgehend nicht im Deutschen Bundestag. Ich habe in diesem Jahr meinen Mann geheiratet und erhielt viele Glückwünsche, auch von Abgeordneten der CDU/CSU. Aber ich erlebe Diffamierungen ganz besonders in sozialen Netzwerken, auch von Vertretern der AfD. Dort werde ich als Person beleidigt und beschimpft. Aber es geht hier nicht nur um mich. Bedrohungen und Beschimpfungen gehören leider für viele LSBTIQ* zum Alltag.

Mit Sven Lehmann sprach Friederike Zörner

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