Qualifikation für Wimbledon : Roehampton – der heilige Ort für Tennis-Puristen | ABC-Z
Roehampton im Südwesten Londons hat es in Sachen Tennis in sich: Als Qualifikations-Ort für Wimbledon ist er eine Art Mekka für Tennis-Puristen.
In der Woche vor dem dritten Grand Slam des Jahres sind die Augen der Fans auf den kleinen Ort Roehampton gerichtet, in dem die Qualifikation für Wimbledon ausgerichtet wird. Und die Fans machen sich in Scharen auf, um Tennis in einer sehr ursprünglichen Form zu bewundern.
Eva Lys sank zu Boden. Gerade hatte die Deutsche auf dem Court 3 der Wimbledon-Qualifikationsanlage in Roehampton, tief im Londoner Südwesten, fünf Kilometer vom eigentlichen Turniergelände entfernt, ihr entscheidendes Match gegen die US-Amerikanerin Amanda Anisimova gewonnen. In drei knappen Sätzen besiegte Lys die ehemalige French Open Halbfinalistin und löste so zum ersten Mal das Ticket für den Hauptwettbewerb beim traditionsreichsten Grand Slam Turnier des Tenniskalenders.
Eintrittskarte für Wimbledon
Doch der Sieg, er ist mehr als nur das Ticket für die erste Runde. Er ist auch die Eintrittskarte für den heiligen Rasen an der Church Road, und den hat Lys noch nie von Nahem gesehen, wie sie der Sportschau am Donnerstag (27.06.2024) nach ihrem Sieg verriet: “Manchmal fährt man an der Anlage vorbei und guckt ganz traurig aus dem Auto und dann fährt man weiter nach Roehampton. Wenn man es nie auf die Anlage schafft, ist das natürlich bitter. Aber wenn man es dann schafft, ist das schon eine süße Belohnung.”
Um sich die süße Belohnung zu verdienen, braucht es harte Arbeit. Denn in den Qualifikationswettbewerben von Grand-Slam-Turnieren warten nicht nur große Namen wie Anismova. Es tummeln sich dort all jene, die gerade noch dabei sind zum großen Sprung anzusetzten, andere, die schon mal oben waren und im Ranking zurückgefallen sind und nicht zuletzt jene, die auf eine letzte große Chance hoffen. Harte Konkurrenz also – und das in einer ungewohnten Umgebung.
Flugzeuglärm in der Kulisse von Englands Vergangenheit
Denn im Minutentakt röhren die großen Flugzeuge im Landeanflug auf den Flughafen Heathrow hinweg über das große Feld, das früher mal ein Cricketplatz war und auf dem nun die Qualifikation für Wimbledon ausgetragen wird. Geht man vom imposanten Eingang, der aussieht als würde er einen in die Welt britischer Schulinternate entlassen, in Richtung der Plätze, so unternimmt man eine kleine Zeitreise: Hinter der Players Lounge gibt es Tennisplätze, soweit das Auge reicht.
So muss Tennis vor vielen Jahrzehnten ausgesehen haben. Fast nirgendwo muss man anstehen, um an einen der Plätze zu kommen. So stehen und sitzen auf mitgebrachten Campingstühlen die Hardcore-Fans, die Tennisnerds, Trainerinnen und Trainer und die zahlreichen Ballkinder, die hier schon für den Ernstfall ab nächster Woche proben. Es ist das Festival all derjenigen, die das Tennis in seiner ursprünglichen Form lieben.
Spitzentennis für “Kiebitze”
Am Rande des Court 6 gibt es einen kleinen Hügel, auch hier haben sich die Zuschauer niedergelassen, meist mit einem Getränk in der Hand. Sie haben die Möglichkeit, Weltklassetennis aus allernächster Nähe zu verfolgen. Außer dem Applaus der Menschen und dem minütlichen Röhren der Flugzeugturbinen ist eine geradezu entspannende Ruhe zu vernehmen.
Ein großer Teil der Geräusche wird vom Rasen geschluckt und schaut man vom Weg, der den Platz 6 einrahmt, über die Anlage, so sieht man die Schiedsrichterstühle wie auf einer Perlenschnur aufgereiht. Ein antiquierter Ort also, an dem es so viel Drama auf kleinem Raum gibt, wie sonst vielleicht nur in einem Roman von Jane Austen.
Denn auf dieser so unscheinbaren großen Rasenfläche entscheidet sich das Schicksal von 128 Qualifikantinnen und Qualifikanten, die einen der 16 kostbaren Plätze für das Hauptfeld erspielen wollen.
Der Rasen muss geschont werden
Im Gegensatz zu den drei anderen Grand-Slam-Turnieren in Melbourne, Paris und New York gönnt sich Wimbledon den etwas schrullig anmutenden Luxus, die Qualifikation nicht auf den Plätzen, die ab Montag genutzt werden, auszuspielen, sondern in Roehampton.
Das hat natürlich einen Grund. Denn die Rasenplätze auf der Anlage in Wimbledon halten keine drei Wochen Turniertennis stand. Und da nicht genügend Plätze auf der Anlage an der Church Road zur Verfügung stehen, muss hierher ausgewichen werden.
Immerhin: Spielerinnen und Spieler, die das Hauptfeld erreichen, haben sich automatisch einen Scheck von 60.000 Pfund gesichert. Für Profis wie Marina Stakusic aus Kanada oder den Esten Mark Lajal, die beide erstmals die Hauptrunde eines der vier Grand Slams erreicht haben, ein Karrierebeschleuniger. Mindestens das nächste halbe Jahr ist finanziell gesichert, Flüge können gebucht werden, in der Weltrangliste geht es nach oben, das Turnierjahr wird planbarer.
Tagesticket für 15 Pfund
Die Organisatoren von Wimbledon haben die Kommerzialisierung des Qualifikationsturniers nur im mikroskopisch erkennbaren Maß vorangetrieben. Während früher gar kein Eintritt bezahlt werden musste, kosten die Tickets für einen ganzen Tag Tennis auch jetzt nicht mehr als 15 Pfund.
Merchandise-Stände gibt es auf dem riesigen Feld gar nicht. Ein kleines Gebiet ist für Foodtrucks reserviert. Unter einem Zeltdach können die Menschen, die den Weg in den Südwesten Londons auf sich genommen haben, etwas essen.
Bis auf den großen Showcourt, der auch live auf der Wimbledon-Website gezeigt wird, gibt es nur noch zwei weitere Courts, die überhaupt Zuschauerränge haben. Der Rest der Plätze ist in einem derart geringen Abstand zueinander gestellt, dass maximal zwei Menschen hintereinander Platz finden. Luxus? Fehlanzeige.
Luxus? Nein! Dafür aber perfekte Bedingungen
Doch bei der Qualität der Spielbedingungen können die Spielerinnen und Spieler auch hier Perfektion erwarten. Die Rasenplätze sind im gleichen Zustand wie auf der Anlage in “SW19”, bestätigt Eva Lys: “Ich weiß nicht, was sie hier machen, aber kein Rasenplatz kommt an die Plätze in Wimbledon ran.”
Wie lange die Qualifikation noch in Roehampton gespielt werden wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher. Die Organisatoren in Wimbledon haben ein bis jetzt als Golfplatz genutztes weiteres Grundstück erworben und wollen die Qualifikation näher an die Hauptplätze bringen. Dann wird sicherlich auch die Kommerzialisierung weiter vorangetrieben.
Bis dahin bleibt diese Woche Tennis vor dem dritten Grand Slam des Jahres ein Kleinod für Tennispuristen – und für Spielerinnen wie Eva Lys das Sprungbrett vom kleinen Tennispark auf die wichtigste Anlage, die dieser Sport zu bieten hat: Die Turnieranlage von Wimbledon.