Prozess um Attacke auf Remmo-Späti – Vorwürfe wiegen schwer | ABC-Z

Die brutale Attacke mehrerer Männer auf einen Neuköllner Spätkauf vor fast fünf Jahren hat ein weiteres Nachspiel. Ab Mittwoch stehen sechs Männer dafür vor dem Berliner Landgericht. Den Angeklagten, der jüngste heute 22 und der älteste 36 Jahre alt, wird besonders schwerer Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Der Angriff auf das Geschäft an der Wildenbruchstraße wurde seinerzeit als offene Kriegserklärung tschetschenischer Banden gegen den Remmo-Clan gewertet, dem der Spätkauf zugerechnet wird.
Die Täter stürmten den Laden am Abend des 7. November 2020 gegen 18.45 Uhr und attackierten ihre Opfer offensichtlich mit allem, was sie zu greifen bekamen. Sie sollen nicht nur mit Messern und Reizgas, sondern auch mit Wasserpfeifen und Möbelstücken angegriffen haben. Zeugen berichteten von bis zu 30 beteiligten Personen, von denen drei schwer verletzt im Laden zurückblieben. Sie wurden danach mit Schnittwunden, Knochenbrüchen und schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht.
Die Ermittlungsbehörden gehen von mindestens 20 Angreifern aus. Sechs Männer, damals 17 bis 31 Jahre alt, wurden vor Ort festgenommen. Nach Morgenpost-Informationen sollen sie mit russischem Akzent gesprochen haben. Nun stehen sechs Männer vor Gericht, die übrigen sind den Behörden bis heute unbekannt geblieben. Die wiederum gingen von Anfang an von einem Streit zweier Gruppen der organisierten Kriminalität (OK) aus – Verteilungskämpfe unter anderem im Drogengeschäft.
Mutmaßliche Racheaktion noch am selben Abend in Gesundbrunnen
Die Antwort erfolgte noch am selben Abend – wenn auch nicht zielgerichtet. Gegen 22 Uhr griffen mehrere Täter auf dem Hanne-Sobek-Platz vor dem Bahnhof Gesundbrunnen zwei Männer an, malträtierten sie mit Eisenstangen, stachen zu.
Am Folgetag gegen 17.30 Uhr wiederholte sich das. Diesmal sollen nach Zeugenangaben bis zu 20 offenbar arabischstämmige Männer zum Gesundbrunnen gekommen und scheinbar wahllos zugeschlagen und -gestochen haben. Das Leben eines der Opfer konnte nur durch eine sofortige Notoperation gerettet werden. Im Prozess sagte einer der Geschädigten aus, dass ihn die Angreifer vorher gefragt hatten, ob er Tschetschene sei. Als er das bejaht habe, hätten die Fremden zugeschlagen.
Mit Fußfessel bei der mutmaßlichen Racheaktion dabei
Einer der Beteiligten der mutmaßlichen Racheaktion konnte schnell ausfindig gemacht werden. Nasser Rammou – die Schreibweise des Nachnamens variiert – galt damals als Führungsfigur innerhalb des Remmo-Clans. Seit Februar 2021 sitzt er in Haft. Im August 2021 wurde er wegen seiner Beteiligung an den Attacken im Gesundbrunnen zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Rammou stand nach seiner letzten Haftentlassung im Februar 2018 unter Führungsaufsicht und trug eine elektronische Fußfessel, sodass ihm seine Anwesenheit bei beiden Taten ohne Probleme nachgewiesen werden konnte.
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Ob der zum Zeitpunkt des Urteils 42-Jährige selbst zugeschlagen hatte oder lediglich anwesend war, konnte zwar nicht geklärt werden. Das Gericht betonte jedoch seine Rolle als vermeintliche Führungsfigur und befand, dass die Attacken „mit seinem Wissen und Wollen“ geschehen seien. Ferner stellte die Kammer eine rassistische Tat fest. Es sei lediglich darum gegangen, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe zu verletzten. Alle Opfer der beiden Gewaltorgien in Gesundbrunnen hatten mit der Attacke auf den Neuköllner Spätkauf nichts zu tun.
Nasser Rammou soll Affäre mit Gefängniswärterin gehabt haben
Nasser Rammou ist wohl das, was man den Prototypen eines Intensivtäters nennen könnte. Mit 18 Jahren wurde er das erste Mal wegen Drogendelikten verurteilt. 15 Jahre saß er bis zu seiner Festnahme im Februar 2021 insgesamt mit Unterbrechungen in Haft. Im Mai 2022 kam eine weitere Haftstrafe von neun Jahren unter anderem wegen Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz hinzu. Mit einem Partner soll er in großem Stil nicht nur mit Drogen, sondern auch mit teils automatischen Waffen gehandelt haben.

Im Mai 2017 wurden mehrere Kugeln auf eine Kneipe an der Groninger Straße im Wedding abgefeuert.
© Reto Klar
Das Verfahren war seinerzeit eines der ersten sogenannten EncroChat-Verfahren. Über den kryptierten Messengerdienst, der im April 2020 von französischen Sicherheitsbehörden mitgelesen wurde, sollen die Männer auch offen über mögliche Auftragsmorde gesprochen haben. Zuletzt machte Rammou wegen einer mutmaßlichen Affäre mit einer Mitarbeiterin der Justizvollzugsanstalt Plötzensee Schlagzeilen.
Tschetschenen: Vom „kriminellen Dienstleister“ zum Akteur der OK
Die andere Seite gilt jedoch als nicht minder brutal. „Tschetschenische OK-Gruppierungen sind historisch schon lange Bestandteil des kriminellen Milieus“, heißt es im jüngsten Lagebild Organisierte Kriminalität der Berliner Polizei von 2023. Sie zeichnen sich durch die „Anwendung eines rigorosen Sanktionierungssystems und eine bemerkenswert formelle wie informelle transregionale Vernetzung und Mobilität aus“. Auch einige der Tatverdächtigen vom 7. November 2020 sollen extra nach Berlin gereist sein.
Tschetschenische Banden, die als straff organisiert gelten, wurden jahrelang „durch Dritte als kriminelle Dienstleister rekrutiert, beanspruchen inzwischen aber auch eigene illegale Geschäftsfelder für sich“, heißt es im Lagebild weiter. Dieser Konflikt geriet bereits vor der Attacke auf den Neuköllner Späti in den Fokus. Im August eskalierte ein Streit zwischen zwei rivalisierenden tschetschenischen Gruppen im Märkischen Viertel. Mindestens 20 Schüsse wurden mitten am Tag auf ein Kulturzentrum abgefeuert. Im Jahr zuvor wurde bei einem Überfall auf ein Café im Wedding ebenfalls scharf geschossen. Die Ermittlungsbehörden stellen immer wieder auch Bezüge zum Islamismus fest.
Ab Mittwoch muss sich nun die 18. Strafkammer des Berliner Landgerichts I mit dem Überfall vom 7. November 2020 befassen. Insgesamt sind fünf Verhandlungstage bis zum 24. November 2025 geplant.