„Prozess“ mit Christiane Paul: Tanz den Justizirrsinn | ABC-Z
Berlin. Ein starker Beitrag zum Kafka-Jahr: Oliver Frljics „Prozess“ im Gorki. Mit Christiane Paul in einer ihrer seltenen Bühnenauftritte.
Man hat ja schon viele Kafka-Interpretationen gesehen. Aber so stellt man sich den düsteren Dichter doch eher nicht vor: Tänzelnd, leichtfüßig, ironisch, zu beschwingter Ballettmusik. Genauso tippeln und hüpfen die beiden Gefängniswächter anfangs auf die Bühne, umkreisen das Bett und wirbeln es herum, in dem der arme K. aus dem Schlaf gerissen wird. Und erfahren muss, dass er verhaftet wird.
Warum? Wieso? Wie lautet die Anklage?, wagt der Angeklagte zu fragen. Doch solche Frechheiten beantworten die Wächter nicht. Sie sind nur kleine Rädchen im Getriebe. Oder in dieser sinnbildlichen Inszenierung von Oliver Frljic: Tänzer in einer Choreografie. Heißa, lustig ist der Rechtsvollzug. Aber wenn ihn jemand ihn in Frage stellt, dann erweist er sich als penibel ausgeklügelter Bewegungsablauf, in dem man seinen Part leisten muss. Bloß nicht aus der Reihe tanzen! Und dann wummern grollende Bässe statt heiteren Melodien.
Bloß nicht aus der Reihe tanzen!, lautet der Tenor
„Prozess. Ein Projekt von Oliver Frljic nach Frank Kazfka“ ist eine erfrischend neue, erfrischend andere Sichtweise auf den Romanklassiker. Und damit ein immens starker Beitrag zum 100. Todesjahr des Dichters, das mit allerlei Ausstellungen, Neuinszenierungen und Filmen aufwartet. Die Bühne von Hannes Trölsch: kahl, leer, dunkel und grau, so wie man sich einen Kafka vorstellt.
Einzige Kulisse am Anfang: eine Statue von Justitia, mit verbundenen Augen und Waage in der Hand, die verloren am Bühnenrand steht. Davor der Tanz auf den Justizirrsinn. Alle sehen hier gleich aus, tragen denselben dumpfbraunen Anzug, dasselbe oben weiße und nach unten vergrauende Hemd und denselben schwarzen Kopfüberzug. Ein grauer uniformer Einheitsmassenlook, so gesichtslos, dass alle anfangs auch eine immergleiche Maske mit langem Haar tragen. Wie eine Totenfratze.
Lesen Sie auch: Wie wild auf dem Narrenschiff: „The Hunger“ an der Volksbühne
Der einzige, der hier noch halbwegs Individuum ist, ist K, der nicht weiß, warum er verhaftet wird. K flüchtet sich ins Publikum, Reihe Sieben, als ein Gitter von der Bühne herabgelassen wird und die Rechtsgewalt in ihrer klaren Hierarchie auf ihn niedergeht. Die Anklage wird direkt in den Publikumssaal gesprochen. Aha, wir alle sind K. Wir alle sind angeklagt.
Frljic, seit fünf Jahren Hausregisseur am Gorki, der hier mit sehr ungewöhnlichen, sehr eigenen Produktionen wie „Imaginary Europe“ oder seiner „Kriegstrilogie“ auf sich aufmerksam machte und von Kafka auch schon „Ein Bericht für die Akademie“ bearbeitet hat, er findet hier immer wieder starke Bilder für die unüberwindliche Allmacht des Justizsystems.
Eine riesige Tür, die Klinke viel zu hoch, um sie zu öffnen
Ein Ballett unterwürfiger Gerichtsschreiber, die auf ihren Schreibpodesten kreiseln. Eine Tür, so riesig, dass die Menschlein kaum an die Klinke herankommen, um sie zu öffnen. Peinvolle Verhörfolter, wieder zum federleichten Choreographie verfremdet, wobei die Delinquenten auf die Schreibtische gelegt werden und Zungen oder Hände in die Schreibmaschine eingespannt werden, auf die dann eingetippt wird.
Und schließlich Justitia, das Standbild, das dann auch über die Bühne gerollt wird, und bald keine Waage mehr in der Hand hält, sondern einen Tropf, der dem Advokat angelegt wird. Ein Sinnbild dafür, dass die Justiz längst selbst siech am Tropf hängt.
Lesen Sie auch: Das Scheitern in einer kalten Welt: „Kleiner Mann, was nun?“ am BE
Früh wird klar, es ist alles nur eine Verwechslung. Das hohe Gerichtweiß ja nicht mal den richtigen Beruf von K. Und bald kommt dann, eine weitere schöne Pirouette dieser Inszenierung, Franz Kafka höchstselbst vor Gericht, der beschuldigt wird, selbiges denunziert zu haben. Was nutzt da der Verweis, dass das alles ja nur Fiktion sei! Das Urteil lautet: Das gesamte Oeuvre verbrennen.
Und K, das Justizopfer? Wird trotzdem nicht entlassen. Und reiht sich endlich an. Muckt nicht mehr auf. Trägt dann auch die Perücke der anderen. Und legt sich am Ende selbst die Schlinge an, die Justitia nun in der Hand hält. Und lässt sich von ihr wie ein braves Hündchen an der Leine ziehen.
Der Coup der Inszenierung: Im Ensemble spielt ein Star mit
90 freche, kurzweilige Minuten, die den Kafka-Roman radikal modern, gleißend aktuell und hautnah erlebbar machen. Dabei wartet die Produktion noch mit einem echten Coup auf: Christiane Paul. Die Filmschauspielerin kann auf eine lange Karriere zurückblicken, hat aber erst zwei Mal Theater gespielt, und das ist lange her.
Vor 20 Jahren als Engel der Verzweiflung in Heiner Müllers „Der Auftrag“ am Haus der Berliner Festspiele, unter der Regie von Ulrich Mühe. Und dann vor 16 Jahren als Anna in Tschechows „Iwanow“ am Düsseldorfer Schauspielhaus. Nun, mit 50, wagt sie sich erneut auf die Bühne. Aber nicht an einem großen, star-gewohnten Haus. Sondern im experimentellen Gorki. Weil es ihr der kroatische Regisseur mit seinen umstrittenen Inszenierungen angetan hat.
Mehr zum Thema: Christiane Paul im Interview: „Ich habe kein Altersproblem“
Im Kino war sie gerade in „Die Ermittlung“ zu sehen, nach Peter Weiß, jetzt hier im „Prozess“. Doch auch wenn das Plakat mit einer nackten, wenn auch verpixelten Christiane Paul wirbt, spielt nicht sie die Hauptrolle des K. Das tut glänzend Edgar Eckert, ebenfalls ein Neuzugang am Hause.
Christiane Paul ist eine der fünf anderen Schauspielenden, die in alle möglichen Rollen schlüpfen. Das scheint erst nicht zu passen und widerspricht dem Anpasserisch-Gleichmacherischen, dem Gesichtslosen der Inszenierung, einen Star darunter zu platzieren. Aber klug und bescheiden reiht sich die Paul ins Ensemble, statt ein großes Solo abzuliefern.
Der Star auf der Experimentierbühne: Ein Statement
Und beweist ihr Talent, indem sie wie die anderen ständig neue Charaktere springt, von der verständnisvollen Nachbarin bis zur Folterfrau. Sie tut das mit großer Spielfreude und einer Körperlichkeit, die man aus ihrem Filmschaffen so nicht gewohnt ist. Mit wenigen Anspielungen kann sie in die unterschiedlichsten Figuren springen. Chapeau.
Gute Woche-Newsletter
Alles Gute aus Berlin in einem Newsletter – jede Woche gute Nachrichten
Hoffentlich traut sie sich, demnächst öfter Theater zu spielen. Dass sie gerade jetzt, da sie international so gefragt ist in Film- und Serienproduktionen, im Gorki auftritt, ist ein Statement. Und für das Haus ein großer Gewinn.
Gorki, Am Festungsgraben 2, Mitte. Weitere Termine: 25.9., 6. und 20.10., 19.30 Uhr.