Geopolitik

Prostitution in Berlin: „In den Bordellen sind es mittlerweile etwa 50 Prozent Ukrainerinnen“ | ABC-Z

Geflüchtete Ukrainerinnen haben Anspruch auf Bürgergeld – dennoch landen viele in Berlin in der Prostitution. Zunächst mit dem Vorsatz, da nur vorübergehend zu arbeiten. Doch daraus wird oft mehr. Eine Sozialarbeiterin erklärt die Gründe und schildert die Lage in den Bordellen.

Mia ist Sozialarbeiterin bei „NeustartLink wird in einem neuen Tab geöffnet“, einem sozial-diakonischen Werk in Berlin. Dort kümmert sie sich um Frauen, die in der Prostitution tätig sind. Konkret bedeutet das: Beratung, aufsuchende Arbeit auf dem Straßenstrich und in den Bordellen, Hilfe bei Terminen sowie Anträgen und die Betreuung von Frauen in einer Ausstiegswohnung. Da sie unter anderem mit von Gewalt betroffenen Frauen und Frauen, die sich nicht freiwillig prostituieren, arbeite, will sie ihren echten Namen nicht veröffentlichen.

WELT: Mia, Ihre Arbeit mit Frauen in der Prostitution hat sich seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 verändert. Inwiefern?

Mia: Vorher waren Ukrainerinnen in diesem Milieu wenig präsent. Die Frauen, mit denen wir in Berlin arbeiten, kommen eigentlich mehrheitlich aus Osteuropa: Bulgarien, Rumänien und Ungarn – und jetzt auch aus der Ukraine. In den Bordellen sind es mittlerweile etwa 50 Prozent, würde ich sagen. Dort gibt es viele sehr junge Frauen, die aufgrund des Krieges hergekommen sind.

WELT: Wie gelangen die ukrainischen Frauen hier in Deutschland in die Prostitution?

Mia: Ich habe bis jetzt wenig Frauen kennengelernt, die in ihrer Heimat angeworben worden sind, um nach Deutschland zu kommen. So ist das oft bei Frauen aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn der Fall. Da spricht sich schon in den Herkunftsländern herum: „Du kannst in Deutschland zumindest 80 Euro am Tag verdienen.“ Das ist deutlich mehr als das normale Durchschnittsgehalt in einigen ländlichen Regionen zum Beispiel in Ungarn: 300 Euro pro Monat.

Bei den Ukrainerinnen ist es eher so, dass sie von anderen ukrainischen Frauen in Deutschland gehört haben: „Wir arbeiten da, und da kannst du auch arbeiten.“ Manche Frauen werden auch online angeworben, aber eben, wenn sie schon hier in Deutschland sind.

WELT: Ukrainer und Ukrainerinnen können Sozialleistungen beziehen. Wieso gehen die Frauen dennoch in die Prostitution?

Mia: Viele der Frauen aus der Ukraine, die wir betreuen, sind sich ihrer Rechte gar nicht bewusst. Außerdem wurde bei ihnen große Angst vor dem Jobcenter geschürt. Es gab eine Frau, etwa Mitte 40, die in unsere Beratung kam. Ich habe ihr vorgeschlagen, einen Jobcenter-Antrag zu stellen, damit sie Bürgergeld bekommt. Sie hatte aber Angst, dass es Probleme gibt, wenn sie zu den Behörden geht und die herausfinden, dass sie sich prostituiert. Sie hatte Sorge vor Stigmatisierung. Jetzt, wo ihr Sohn gerade nachgekommen war, wollte sie auf gar keinen Fall mit diesem Milieu in Verbindung gebracht werden.

Die Menschen aus der Ukraine haben das Recht auf Unterbringungen – es gibt aber zu wenig Unterbringungsmöglichkeiten. Dementsprechend ist es so: Wenn du nicht selbst etwas organisierst, kannst du unter Umständen nur in eine Notunterkunft gehen. Dann bleiben viele Frauen doch lieber in der Prostitution, auch wenn sie da vielleicht nicht selbstbestimmt angefangen haben.

WELT: Zu Beginn des Krieges war die Sorge groß, Frauen aus der Ukraine würden mit falschen Wohnungsangeboten gelockt. Spielte das bei den Frauen, die Sie betreuen, eine Rolle?

Mia: Ja. Nicht jeder, der eine Wohnung anbietet, meint es gut. Anfangs wurden Ehrenamtliche nicht überprüft oder kontrolliert. Jeder hätte sagen können: „Ich habe eine Wohnung frei. Dafür musst du auch nichts bezahlen.“ Irgendwann musst du dann doch bezahlen – vielleicht nicht mit Geld, aber mit anderen Dienstleistungen.

Ich habe eine junge Frau betreut, Anfang 20, mit Universitätsabschluss, konnte gut Englisch sprechen. Sie kam nach Deutschland und hatte ihren relativ jungen Sohn erst einmal in der Ukraine bei ihrer Mutter gelassen, um hier die Lage zu eruieren. Es war für sie sehr schwer, Wohnraum in Berlin zu finden, und sie kam schließlich bei einem Mann unter, den sie mit sexuellen Handlungen für die Unterkunft bezahlen sollte. Als dann die Miete von dem Mann angehoben wurde, sagte er ihr, sie könne sich prostituieren und ihn am Gewinn beteiligen. Könne sie die Miete nicht zahlen, würde er sie auf die Straße setzen, und dann könne sie ihren Sohn nie nachholen. Das tat sie dann auch.

Eines Tages wurde sie auf der Straße, an der sie gearbeitet hat, von der Polizei kontrolliert. Die Polizisten fanden viel Bargeld bei ihr, was sie konfiszierten. Da hat sie zum ersten Mal gesagt, sie mache das nicht freiwillig. Die Polizei hat dann das Frauenhaus angerufen, und die Frau ist später in eine Schutzwohnung für Frauen aus der Ukraine gezogen.

WELT: „Neustart“ betreut auch eine Ausstiegswohnung. Wie genau funktioniert das?

Mia: Ganz viele Frauen in der Prostitution sind wohnungslos. Sie haben keine Meldeadresse und keinen Mietvertrag und wohnen bei Bekannten oder Kunden in Pensionen, Hotels oder in den Bordellen, in denen sie arbeiten. Für Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, ist das oft sehr schwierig, da sie dann ihren Wohnraum verlieren. „Wohnen“ muss als Grundbedürfnis aber gesichert sein, um zu schauen: Was möchte ich eigentlich? Möchte ich zurück in die Heimat? Möchte ich eine Ausbildung machen oder vielleicht studieren? Das ist nicht möglich, wenn ich in einer so prekären Lage bin.

Es ist für viele schwierig, aus der Prostitution auszusteigen, weil das Milieu stark in sich geschlossen ist. Das heißt, die Kontakte, die die Frauen haben, ihr ganzes Umfeld findet ausschließlich im Milieu statt. Wenn du aussteigst, hast du kein soziales Netz mehr. Frauen, die aussteigen wollen, brauchen deswegen meist mehrere Anläufe. Die Wohnung steht erst einmal für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren zur Verfügung. Der Wohnungsmarkt in Berlin ist aber eine Katastrophe – es kann also auch länger dauern, bis eigener Wohnraum gefunden werden kann.

WELT: Haben diese ukrainischen Frauen keine beruflichen Alternativen?

Mia: Die, denen ich bis jetzt begegnet bin, haben einen Schulabschluss und hatten auch alle Zeugnisse und Nachweise bei sich. Aber es dauert, bis Abschlüsse anerkannt werden. Außerdem ist es schwer, ohne Deutschkenntnisse einer anderen Arbeit nachzugehen. Es gibt natürlich einen großen Unterschied zwischen ländlichen Regionen und urbanem Raum: Eine Frau, die ich betreue, stammt aus einer ländlichen Region. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht einmal außerhalb der Ukraine, spricht kein Englisch und kein Deutsch und ist völlig überfordert mit dem S-Bahn-Netz.

Viele Frauen sagen, es sei ja nur übergangsweise und für kurze Zeit. Die meisten Frauen in der Prostitution – da unterscheiden sich die Ukrainerinnen nicht – sagen, sie würden in wenigen Monaten oder Jahren wieder aufhören und dann zurück in ihre Heimat gehen. Dieser Zeitraum wird dann immer länger.

WELT: Wie ist aktuell die Situation der ukrainischen und auch der anderen Frauen in der Prostitution in den Berliner Bordellen?

Mia: Die Sorge während der Fußball-EM war, dass Menschenhandel und Prostitution durch die Decke schießen würden. Es waren mehr Menschen in der Stadt und dementsprechend auch mehr Kunden. Das hat sich allerdings nicht bestätigt – zumindest nicht bei den Frauen, die wir betreuen. Im Gegenteil: Die Frauen haben gesagt: „Alle gucken Fußball, niemand kommt hierher.“

Was ich aktuell weiterhin von den Frauen, höre, ist: „Es ist wenig los, und wir verdienen nicht ausreichend Geld.“ Wir machen die aufsuchende Sozialarbeit meist von 18 bis 22 Uhr. Häufig gehen wir um 21 Uhr in eins der letzten Bordelle, und die Frauen sagen, sie sind seit 16 Uhr hier und seitdem war niemand da. Das heißt, dass sie fünf Stunden lang nur rumgesessen haben. Das ist ein Problem: Wenn du arbeitest, kriegst du Geld. Wenn du nicht arbeitest, kriegst du kein Geld. Arbeiten tust du aber nur, wenn du mit einem Kunden auf dem Zimmer bist.

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