Premier League: Das Teilzeitmodell des FC Chelsea – Sport | ABC-Z
Die Geste von Marc Cucurella dürfte schon jetzt einen Platz im Saisonrückblick der Premier League haben. Denn so selbstsicher wie der Linksverteidiger des FC Chelsea reagierte bisher kaum jemand auf eigene Fehler. Obwohl der Spanier am Sonntag zwei Gegentore in den ersten elf Spielminuten gegen Tottenham Hotspur verschuldet hatte, indem er jeweils wegrutschte und dabei den Ball an seine Gegenspieler verlor, schimpfte er in Richtung seines Trainers Enzo Maresca. Dabei zuckte Cucurella, der hierzulande durch sein Handspiel im EM-Viertelfinale gegen das DFB-Team berühmt wurde, immer wieder mit den Schultern und breitete die Arme aus. Auf diese Weise signalisierte er, dass er die Verantwortung für den Rückstand eher nicht bei sich verortete – sondern bei den Betreuern. Diese hatten aus seiner Sicht die Ersatzschuhe nicht schnell genug parat gehabt. Cucurellas Reaktion rügte Sky-Experte Jamie Carragher: „Absoluter Schulkram. Deine Schuld, mein Sohn!“
Nach dem Materialwechsel erlangte Cucurella dann aber wie das gesamte Team seine Standfestigkeit zurück. Die Spurs dagegen verloren dermaßen an Grip, als hätten nun sie Cucurellas Schuhwerk aufgezogen. Chelsea fing Tottenham in einer imposanten Aufholjagd noch 4:3 (1:2) ab und steht nun nach vier Ligasiegen in Serie plötzlich auf dem zweiten Platz – vier Punkte hinter dem Tabellenführer FC Liverpool, dessen Spiel kurzfristig abgesagt worden war. Die Blues ähneln angesichts ihrer draufgängerischen Spielweise einer Fußball-Boygroup, die nach dem Tottenham-Match so viel zu bereden hatte wie Teenies nach der ersten Partynacht: die Elfmetertore von Cole Palmer, die Formkurve von Jadon Sancho, Cucurellas Schuhe – und die eigenen Ambitionen.
Kann der Klub in dieser Verfassung etwa ins Titelrennen eingreifen? Schlagfertig witzelte Maresca, die Rivalen Liverpool, Arsenal und Manchester City würden in dieser Saison „vermutlich nicht so ausrutschen wie Cucurella“. Seine Elf übertreffe zwar die Erwartungen, sei aber weit weg von den genannten Vereinen, tiefstapelte der Trainer. Dessen Zurückhaltung teilte Matchwinner Palmer nicht. Er betonte, dass man nach den Unentschieden von Arsenal und City gewinnen musste – und das habe man getan. Genauso forsch hatte der Jungstar zuvor auf dem Platz agiert.
Cole Palmer hat nun 17 von 17 Elfmetern verwandelt
Bei seinen zwei Strafstößen in der 61. und 84. Minute düpierte Palmer Tottenhams Torwart Fraser Forster: Beim ersten Strafstoß schaute der Nationalspieler nach rechts und schoss den Ball nach links; dann schaute er nach links – und lupfte den Ball in die Mitte. Damit hat Cool Palmer, wie er auf der Insel genannt wird, sagenhafte 17 von 17 Elfmetern im Profifußball verwandelt. Auf so eine Bilanz kam einst nicht mal Englands Superschütze Harry Kane. Beide Strafstoßszenen hatte jeweils Offensivkollege Jadon Sancho mit herrlichen Pässen vorbereitet.
Am letzten Sommertransfertag hatte Chelsea Sancho von Manchester United für ein Jahr ausgeliehen – inklusive festgeschriebener Kaufverpflichtung für die nächste Saison. Ohne Vorbereitung mit der neuen Mannschaft benötigte der Flügelspieler zunächst einige Wochen, um an seine Leistungen aus der vergangenen Rückrunde bei Borussia Dortmund anzuknüpfen. Gegen die Spurs gelang Sancho nun sein zweiter Ligatreffer in Serie, er markierte den Anschlusstreffer per Schlenzer (17.). Dazu trafen Enzo Fernández (73.) und in der Nachspielzeit noch Tottenhams Heung-min Son.
Das Comeback im London-Derby entsprach einer kostenlosen Teambuildingmaßnahme für den vor der Saison abermals neu zusammengestellten Kader. Chelseas Fans sangen ausgelassen „It’s happening again“ an die Adresse des Stadtnachbarn: Es ist schon wieder passiert. Auch in der Vorsaison hatten die Blues bei Tottenham ein spektakuläres Match gedreht. Die Häme war ihnen vermutlich nachzusehen – weil sie zuletzt selbst ständig Spott ertragen mussten. Seit dem Besitzerwechsel im Mai 2022 verpflichtete der Verein unter dem Vorsitzenden Todd Boehly 42 Spieler für ungeheuerliche fast anderthalb Milliarden Euro. Über Chelseas XXXL-Aufgebot wurde hergezogen, man könnte gewissermaßen jeden Wettbewerb mit einer eigenen Mannschaft bestreiten. Genau das scheinen die Blues jetzt tatsächlich zu machen.
Die bisherige Saison zeigt, dass Maresca die Partien in der Premier League und Conference League mit unterschiedlichen Teams angeht. Die meisten Stammspieler in der heimischen Liga sind an den vier internationalen Spieltagen kein einziges Mal zum Einsatz gekommen. Einige von ihnen sind bisher nicht mal für die Conference League registriert worden. Umgekehrt verhält es sich bisweilen genauso: Die im Europapokal am häufigsten eingesetzten Profis spielen in der Liga kaum eine Rolle.
Durch die Aufteilung reduziert Chelsea die grundsätzlich hohe Belastung für die eigenen Spitzenspieler. Sie sind bislang deutlich weniger beansprucht worden als die der Konkurrenten, die fast durchgehend auflaufen. Dies verschafft dem Klub offenbar schon in der Frühphase der Saison einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Die Anzahl der Pflichtspiele ist weiter gestiegen, die Taktung ist eng, doch die Blues wirken auffallend ausgeruht. Dazu stellen sie das jüngste Team in England und schießen mit Abstand die meisten Tore. Das alles deutet an, dass die gewagte Kalkulation von Boehly & Co. irgendwann aufgehen könnte – auch wenn es wohl noch Jahre dauern wird, bis die finanziellen Aufwendungen der Eigentümer eingespielt sind.
Ausdruck der guten Laune beim FC Chelsea war ein Post von Marc Cucurella nach dem Spiel. Er entschuldigte sich bei seinen Kollegen für sein Malheur und veröffentlichte dazu ein Foto: Es zeigt seine Fußballschuhe im Müll.