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Postpartale Depression: Das unterschätzte Risiko | ABC-Z

Es spielen keine Geigen im Hintergrund, wenn ein Neugeborenes nachts schreit und sich weder stillen noch beruhigen lässt. Das Sich-aneinander-Gewöhnen, so oft verklärt in Film und Buch, so herausfordernd in der Realität, löst bei Müttern auch unerwartet negative Gefühle aus. „Babyblues“ nennt es der Mediziner Gerold Höver und sagt über diese Musikgattung: „Sie ist völlig normal“.

Darunter versteht der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Gefühlsschwankungen, unerklärliche Stimmungseinbrüche, die üblicherweise zwei bis vier Tage nach der Geburt beginnen und bis zu fünf Tage andauern. „Eine Geburt verändert das Leben einer Mutter ja komplett – was in der Schwangerschaft vom Körper ganz automatisch übernommen wird, bleibt jetzt in der Verantwortung der Eltern. 24 Stunden am Tag.“ Dazu kommen hormonelle Umstellungen, ein wahres Chaos im Körper. Drei von vier Müttern spürten diese Veränderungen nach der Geburt deutlich, sie durchlebten den Babyblues, sagt Höver.

Erst wenn ein solches Wechselbad der Gefühle länger als eine Woche andauert und heftigere Abwehrgedanken dazukommen, spricht Höver von einer postpartalen Depression. Bis zu 20 Prozent aller Frauen sind in der Zeit rund um die Geburt davon betroffen – und nicht alle erkennen, dass sie krank sind. Es könnten plötzlich irrationale Ängste auftreten, dass dem Kind etwas zustoße, sagt Höver. Oder es entsteht das Gefühl, das Kind nicht in den Arm nehmen zu können, ihm sogar etwas antun zu wollen, wenn man allein mit ihm ist. „Darüber zu sprechen, das trauen sich die wenigsten.“

Diese Gedanken sind nicht nur für die Betroffenen unerwartet und unerträglich, man wagt auch nicht, sie mit anderen zu teilen. „Gerade deshalb ist es so wichtig, im Gespräch diese Tür aufzumachen“, sagt Höver, der in der Vitos-Klinik Bamberger Hof Patientinnen behandelt. Ein Austausch führe dann häufig zu Tränen der Erleichterung, wenn die Betroffenen hörten, dass sie nicht die Einzigen seien, die so fühlten. Und dass diese Gedanken nichts, aber auch gar nichts über ihre Qualität als Mutter aussagten.

Erkrankung der Mutter ist Risikofaktor für den Vater

In der Mutter-Kind-Klinik berät der Arzt auch Paare. Denn die Erkrankung der Mutter trifft auch ihr Umfeld, sie ist sogar ein Risikofaktor für den Vater, ebenfalls eine postpartale Depression zu bekommen. Dass auch Väter an einer Wochenbettdepression erkranken können, erstaunt nur auf den ersten Blick. Denn die Gefühle der Überforderung, das Auseinanderklaffen von Erwartung und Realität und die Enttäuschung darüber können auch Männer nach der Geburt des sehnsüchtig erwarteten Kindes aus der Bahn werfen. Etwa jeder zehnte Vater sei davon betroffen, sagt Höver.

Gerold Höver, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, behandelt in der Vitos-Klinik Frankfurt nicht nur Mütter nach der Geburt.Lucas Bäuml

Der World Maternal Mental Health Day am ersten Mittwoch im Mai soll die Aufmerksamkeit der Mütter, aber auch der Väter und der Angehörigen auf die Symptome lenken, die manchmal zu spät erkannt werden: eine wiederkehrende oder anhaltende innere Traurigkeit, ein Gefühl der Erschöpfung, der Hoffnungslosigkeit, eine ständige Selbstabwertung. „Ich bin eine schlechte Mutter, mein Kind wäre ohne mich besser dran, ich sollte es zur Adoption freigeben“, das sind Gedanken, die Höver als Beispiele nennt. Unter der inneren Verlorenheit der Mutter könne auch das Kind leiden. Werde die Depression nicht behandelt, bestehe die Gefahr, dass Kinder später selbst Bindungsstörungen oder im weiteren Leben psychische Störungen entwickelten, so der Mediziner.

Für Frauen kann es schockierend sein, wenn sie keine mütterlichen Gefühle für ihr Wunschkind entwickeln. Die Erkrankung führt dazu, das Negative zu betonen und das Positive, etwa das Lächeln eines zufriedenen Babys, gar nicht mehr wahrzunehmen. Wenn die Mutter nicht lächelt, spiegelt das Kind diese Emotion auch seltener wider, es wird dann quasi so ernst wie die Mutter. In solchen Fällen setzt Höver auf die Video-Interaktionstherapie: Dabei werden Mutter und Kind in Alltagssituationen gefilmt, um dann Szenen herauszufiltern, in denen das Baby gelächelt oder Blickkontakt gesucht hat. Dieser Videobeweis soll die positiven Momente verstärken, die sonst im Gedankendunkel der Krankheit untergehen würden.

Je früher man Hilfe sucht, desto besser kann geholfen werden

Obwohl sich die Depression einer werdenden oder jungen Mutter in Gedankenspiralen windet, die sich fast ausschließlich um das Kind und die Geburt drehen – behandelt wird die Patientin wie andere Depressive auch: mit Gesprächstherapien oder medikamentös. Gerade vor Tabletten scheuen aber die meisten werdenden Mütter wegen möglicher Nebenwirkungen für ihr Kind zurück. Da es keine Medikamentenstudien gibt, die Schwangere einschließen, können nur Erfahrungswerte geteilt werden.

Höver verweist auf die Seite Embryotox der Charité in Berlin, auf der Erfahrungen von Müttern gesammelt werden, die in der Schwangerschaft oder der Stillzeit Medikamente gegen ihre Depression genommen haben. Sie zeigten, bei welchen Präparaten die Risiken minimal seien und auf welche in der Schwangerschaft unbedingt verzichtet werden sollte, so der Facharzt. „Es ist immer eine Abwägungsfrage“, sagt Höver. Doch in schweren Fällen, wenn die Depression es der Schwangeren unmöglich mache, sich vernünftig zu ernähren oder zu den Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, sei manchmal die Medikamentengabe unumgänglich. Es gebe mittlerweile eine kleine Anzahl von Präparaten, die man mit gutem Wissen verordnen könne, begleitet von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen.

Je früher Betroffene Hilfe suchen, desto besser kann ihnen geholfen werden. In Frankfurt gibt es viele ambulante und stationäre Hilfen. Die Akteure bilden ein Netzwerk, in dem sie sich gegenseitig informieren und unterstützen. So kann in akuten Fällen auch recht schnell ein Termin bei einem Psychotherapeuten oder einer Beratungsstelle vermittelt werden. Begonnen hat das Netzwerk als Keimzelle an der Vitos-Klinik – und auf Initiative einer betroffenen Mutter, die vor 25 Jahren eine Selbsthilfegruppe gründete, wie Höver sagt.

Heute gehören zu dem Netzwerk außer der Vitos-Klinik Bamberger Hof die Klinik Hohe Mark, die Uniklinik mit einer ambulanten Beratung, psychosoziale Beratungsstellen, niedergelassene Psychotherapeuten, das sonderpädagogische Beratungszentrum, viele Hebammen und die Frühen Hilfen des Gesundheitsamtes. Das „Netzwerk Frühe Hilfen Frankfurt“ hat auf seinen Internetseiten unter dem Titel „Seelische Gesundheit in der Zeit um die Geburt“ alle Ansprechpartner aufgeführt.

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