Kultur

Posthumer Roman von Tezer Özlü: Bruchstücke eines Lebenshungers | ABC-Z

Auf nicht einmal 100 Seiten umkreist dieses Buch ein Menschenleben. Tezer Özlü setzt es aus scharfen Splittern zusammen und wendet den Blick ihrem Erwachsenwerden zu, blickt nach Anatolien, Istanbul, Paris und Berlin. Die türkische Autorin und Übersetzerin (unter anderem Franz Kafka, Heinrich Böll, Cesare Pavese) wurde 1943 geboren und starb 1986 viel zu früh an Brustkrebs in Zürich.

Vor einem Jahr veröffentlichte der Suhrkamp Verlag ihren aufsehenerregenden Roadtrip „Auf der Suche nach einem Selbstmord“. Darin folgt sie den Spuren von Schriftstellern, die sie verehrt, erinnert sich in Prag an Franz Kafka, in Triest an Italo Svevo, in Turin an Cesare Pavese.

Das Buch entstand 1982, erst 2024 erschien es erstmals auf Deutsch, der Sprache, in der es geschrieben wurde. Ihr autobiografischer Roman „Die kalten Nächte der Kindheit“ indes erscheint jetzt nach seiner erstmaligen Publikation 1985 in der Neuübersetzung des Schriftstellers Deniz Utlu, der zudem ein kenntnisreiches Nachwort beisteuert.

Hochdramatische Dialoge

„Die kalten Nächte der Kindheit“ setzten sich aus Bruchstücken der Erinnerung zusammen, die Özlü in der Gegenwartsform bündelt: ihre Herkunft aus einem streng patriarchalen System, in dem Männer grundsätzlich bevorzugt behandelt werden, über mehrere Psychiatrie-Aufenthalte schon in jungen Jahren bis hin zu dem lebenshungrigen Überschwang einer Frau, die ihr Begehren furchtlos in die Tat umsetzt.

Aufgeschrieben hat sie das in einem knappen elegischen Tonfall, der wilde Tempo-, Zeit- und Ortswechsel vollzieht, hochdramatische Dialoge entspinnt und die psychischen Verwerfungen der Ich-Erzählerin in umwerfende Sätze stanzt: „Mein Gehirn schleudert ins Weltall“, lautet so ein Satz, der die psychotische Innenwelt der Autorin wie auch Drogenerfahrungen und vollzogenen Sex fokussiert. Wichtig ist nur, dass hernach nichts mehr an seinem angestammten Platz scheint.

Dabei wirkt das textliche Gewebe dieser autobiografischen Prosa so dicht und lyrisch, dass man als Leserin zwischen den Zeilen um Atem ringt. Das liegt allerdings nicht nur an der Form, sondern auch an den beschriebenen Brutalitäten in den Familien und Nervenkliniken.

Als weibliche Erzählerin, die sich den eigenen Urängsten stellt wie einem Ultimatum reiht sich Tezer Üzlü in eine Tradition ein, die von Sylvia Plath über Ingeborg Bachmann bis hin zu Tove Ditlevsen reicht. Autorinnen, deren seelischer Ausnahmezustand ihr Schreiben erzwingt und grundiert. Frauen, die mit gesellschaftlich verordneten Rollenerwartungen auf Kriegsfuß stehen und in den Aufbruchjahren nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Sehnsüchten hinterherrennen.

Der politische Schmerz

Im Falle von Tezer Özlü kontrastiert die Freudlosigkeit der niederschmetternden Suizidgedanken die hellen Tage der Kindheit sowie auch immer wieder der politische Schmerz ihres Landes ihre eigenen seelischen Erfahrungen. Diese kulminieren wiederum in der Farbe Grau, die sowohl den Himmel als auch das Marmarameer sowie Berlin und schließlich auch die eigenen Innenwelt bedeckt. Die Wahnvorstellungen brechen jäh und bruchlos in den Text, das Überfallenwerden gerät beim Lesen zur nachvollziehbaren Erfahrung.

Deniz Utlu hat gut daran getan, einige Worte unübersetzt zu lassen, was die Fremdheit des Textes, in der das Fremdsein in der Welt vorrangiges Thema ist, erhöht. Die Worte, die er im Deutschen wählt, haben oft eine schöne Plastizität („plattnasige Busse“), ohne so gesucht zu wirken, dass sie vom Eigentlichen ablenken würden. „Es kommen härtere Tage“, zitiert er an einer Stelle stillschweigend Ingeborg Bachmann und damit eine jener Autorinnen, die von Tezer Özlü ins Türkische übersetzt wurden. Ein Jahr hat sie selbst an dem schmalen Roman geschrieben. Seine längst fällige Wiederentdeckung und Neuübersetzung ist eine kleine Sensation.

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