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Porträt-Fotografie: Justine Bittners Ausstellung “Einblicke” gibt Rätsel auf – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z

Was weiß man von den Menschen, mit denen man die eigene Lebenswelt teilt: von der Kassiererin im Supermarkt, vom Bauhof-Mitarbeiter, vom Bürgermeister? Welche Bilder hat man von ihnen im Kopf? Und wie sehen sie sich selbst? Mit Fragen wie diesen spielt die Geretsrieder Fotografin Justine Bittner in ihrer Ausstellung „Einblicke“ in der Städtischen Galerie an der Elbestraße. Die ungewöhnliche Schau richtet sich nicht nur an Freunde der Porträt-Fotografie. Bittner hat sich einen Kniff einfallen lassen, um ihre Gäste zum genauen Hinschauen und Mitmachen zu animieren. Alle Porträtierten sind mit einem zweiten Bild, ihrem „Attribut“, in der Ausstellung vertreten. Und so gibt es einige Fragen zu klären, zum Beispiel: Wer bitte hat diesen Berg von Radiergummis gesammelt?

„Ich wollte nicht einfach nur Gesichter zeigen“, sagt Bittner, die sich als (ehrenamtliche) Fotografin des Waldramer Erinnerungsorts Badehaus überregional einen Namen gemacht hat. „Das sollte keine Ausstellung werden, durch die man geht und sagt: Aha, aha, aha, danke und auf Wiedersehen.“ Sie hofft, dass ein Funke der Begeisterung und Leidenschaft, mit der sie Menschen porträtiert, auf ihre Gäste überspringt. „Fotos sind etwas Intimes“, sagt sie. „Es erfordert Vertrauen, mich so nah ran zulassen und diese Bilder dann öffentlich zu zeigen.“ 23 Frauen, Männer und Kinder aus Geretsried und Umgebung haben sich darauf eingelassen. Die Jüngsten sind fünf, die Älteste ist 91.

Justine Bittner fotografiert am liebsten Menschen. (Foto: Justine Bittner/oh)

Auf den Weg gebracht hat die Ausstellung der langjährige Galerist und Sammler Albrecht Widmann. Er hat vor vier Jahren Bittners Ausstellung „Lebensbilder“ in Waldram gesehen und war ergriffen von ihren Porträts jüdischer Zeitzeugen. Die städtische Galerie an der Elbestraße begleitet er beratend. Nachdem es dort in den vergangenen Monaten sehr ruhig geworden war, fiebert er nun der Vernissage am Freitag, 11. Oktober, entgegen. „Das wird großartig!“, schwärmt er. „Eine wunderbare Fotografin!“

Empathie sei für sie das Entscheidende bei der Porträt-Arbeit, sagt Bittner, die 1966 in Heydebreck (Oberschlesien) geboren wurde und 1976 als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam. In Dortmund hat sie Architektur studiert und dabei ihr Auge für Perspektiven, Proportionen und Licht geschult. Als autodidaktische Fotografin nutze sie dies als technisches Fundament, erklärt sie. Ausschlaggebend seien aber Gefühl und Intuition. Ihr Motto und Anspruch: „Ich fotografiere keine Gesichter, sondern Persönlichkeiten.“

Lächeln muss bei ihr niemand

Wie geht das? In ihrem Dachstudio am Geretsrieder Eichenring türmen sich Kisten voll Kostümen neben mannshohen Blitzen und Schubladen mit Kleinrequisiten. An den Wänden und in den Regalen drängen sich Porträts – die Früchte unzähliger Stunden. „Setzen wir uns doch“, sagt sie und weist in eine plüschige Sitzecke mit Sessel, Sofa und Kaffeetischchen. Eben dort beginne stets auch ihre Arbeit. Bevor sie zur Kamera greife, wolle sie wissen, mit wem sie es zu tun habe. So ein Gespräch könne durchaus eine Stunde dauern. Diese Zeit nutze sie, um die natürliche Mimik und Gestik sowie das Verhalten ihres Gegenübers zu studieren. Denn genau dies wolle sie ins Bild bringen. „Eine Fotosession ist erst beendet, wenn ich sagen kann: Jetzt sehe ich Sie.“

Bittner weiß, wie anstrengend es ist, fotografiert zu werden. Wie soll man sitzen? Wie soll man schauen? Kinn hoch oder runter? Sie gebe Tipps und zeige kontinuierlich ihre Aufnahmen, damit man gemeinsam am Bild arbeiten könne. Lächeln muss bei ihr niemand. „Auch Lächeln ist eine Grimasse.“ Irgendwann komme der Moment der beidseitigen Erschöpfung. „Dann gibt es eine Pause, einen Moment des Loslassens. Wir trinken einen Kaffee, reden über irgendetwas. Und dann werden die Bilder gut!“

Albrecht Widmann, gesehen von Justine Bittner. (Foto: Justine Bittner/oh)

Auch Albrecht Widmann hat sie fotografiert. Ein schwieriger Kandidat, wie sie gesteht. Es sei ihr nicht gelungen, das Sprühende und Quirlige einzufangen, das ihn auszeichne. Stattdessen zeigt ihn das Porträt von einer nachdenklichen Seite. „Aber auch das ist eine Facette von ihm, auch das ist gut“, sagt Bittner.

Welches „Attribut“ Widmann gewählt hat, bleibt vorerst ein Geheimnis. Wie alle anderen Porträtierten hat er auf Bittners Bitte hin einen Gegenstand ins Studio mitgebracht, der für eine Leidenschaft, eine Vorliebe, den Beruf oder die Lebensgeschichte steht. In der Galerie hängen die Bilder dieser „Attribute“ nicht bei ihren Menschen, sondern bilden eine eigene Collage. Aufgabe der Gäste wird es sein, sie zuzuordnen. Bittner hat dazu ein Faltblatt mit Einlage gestaltet. Wer seinen Zettel abgibt, nimmt an einer Auslosung teil. Der Gewinn: ein Fotoshooting mit ihr.

In ihrem Studio hat Justine Bittner einen großen Kostüm-Fundus angelegt. (Foto: Stephanie Schwaderer/oh)

Die Freude am Spielerischen, an der Interaktion und am Austausch zeigt sich auch in ihren „historischen Porträts“, von denen sie eine kleine Auswahl an der Elbestraße präsentiert. Die Sessions mit mehreren Kostümwechseln dauerten sechs bis acht Stunden, sagt sie. Schon als Zehnjährige sei sie nach Historienfilmen ins Bad gelaufen und habe versucht, sich die Haare wie die Protagonistinnen hochzustecken. Mittlerweile hat sie es dabei offenkundig zur Meisterschaft gebracht. Viele Kostüme und Requisiten findet sie im Geretsrieder Rot-Kreuz-Laden. Ihre jüngste Errungenschaft: ein Paar handgehäkelter Netzhandschuhe. Sie fischt sie aus einer Kiste, strahlt: „Sind die nicht wunderbar!“

Die 23 Menschen, die sie für die „Einblicke“-Ausstellung porträtiert hat, haben sich nicht verkleidet. Im Gegenteil. Dass jemand es schaffen könnte, alle „Attribute“ richtig zuzuordnen, hält Bittner dennoch für fast ausgeschlossen. Manche Verbindungen seien offensichtlich, andere hingegen so intim, dass nur Nahestehende darum wüssten. Man darf sich also auf 23 Bekanntschaften freuen. Und auf 23 Rätsel.

„Einblicke“, Städtische Galerie an der Elbestraße, Elbestraße 27 a, Geretsried, Vernissage am Freitag, 11. Oktober, 18 Uhr; die Ausstellung läuft bis 27. Oktober, geöffnet Freitag bis Sonntag, 14 bis 18 Uhr

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