Kultur

Polizeifotograf Arnold Odermatt: Eine Pietà aus zerbeultem Blech | ABC-Z

Ein Pkw liegt festgefahren, halb zur Seite geneigt, im Morast neben einer kurvenreichen Landstraße. Ein Autowrack, bis knapp unterhalb der Scheibe an der Beifahrertür im Wasser, dümpelt nahe einem Seeufer. Ein Lkw, quer zur Straße, mit der Fahrerkabine verkeilt in die Spundwand eines Tunnels, auf der Fahrbahn am unteren Bildrand Bremsspuren und Kreidemarkierungen.

Was der Schweizer Fotograf und Oberstleutnant der Kantonspolizei Nidwalden, Arnold Odermatt, über mehr als vier Jahrzehnte in Bildern festgehalten hat, dokumentierte zunächst seinen Arbeitsalltag bei der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen.

Die Wahl seiner Kamera, einer Rolleiflex, war dem Zufall geschuldet. Ursprünglich sollte er die Schauplätze mit Tusche skizzieren, weil sein Chef der Fototechnik Ende der 1940er Jahre misstraute. Odermatt konnte nicht zeichnen, bis zum Dienstende 1990 zückte er also bei der Unfallaufnahme gewissenhaft die Kamera.

Experimentelle Perspektiven

Mit der Zeit entwickelten sich die dokumentarischen Bilder des begabten Polizisten zu Kunstwerken. Er experimentierte mit der Perspektive, fotografierte aus weiter Ferne und von großer Höhe. So wurden seine Fotos zu Stillleben des Schrotts: eine Pietà aus zerbeultem Blech, Beton und Teer.

Obwohl die Aufnahmen in der Chronologie postdramatisch entstanden sind, lassen sich kleine Katastrophen und große Karambolagen erahnen. In ihrer strengen Komposition und nüchternen Bestandsaufnahme geraten die verkümmerten Karosserien in den Hintergrund, stattdessen treten Schraffuren und Linien hervor, Signalgegenstände und Warndreiecke werden zu abstrakten Symbolen.

Ein Panoptikum aus schiefen Bremswegen, abgerissenen Kotflügeln, Pneuresten und allerlei Hindernissen, an denen die Unfallfahrzeuge zerschellt sind. In Nahaufnahmen werden geschmolzene Rücklichter und Blinker zu Klecksen auf einer hellblauen Farbpalette.

Versöhnlicher als die Wirklichkeit

Odermatts After-the-fact-Fotografie inszenierte eine fast subversiv anmutende Idylle, was ihn zur Aussage brachte, Fotos seien „grundsätzlich versöhnlicher als die Wirklichkeit“. Autos und Nutzfahrzeuge wurden nach 1945 zu Massenverkehrsmitteln, um Menschen und Produkte von A nach B zu transportieren.

Das Frühwerk von Odermatt, noch in Schwarz-Weiß, gibt erste Hinweise auf den Infarkt, der sich auch auf den Schweizer Nah- und Fernstraßen ab den 1950ern ereignet: Massenunfälle, Blechlawinen, die sich an Unfallorten stauen, auf dem Dach liegende Autos, umgekippte Sattelschlepper, beschädigte Busse, die ganz normale Zombieapokalypse im Straßenverkehr.

Den PS-Wohlstand ab den 1960ern bildete Odermatt in Kodachrome-Farbfilm ab, nicht nur die Autos werden größer, auch die Schäden, die ihre Unfälle verursacht haben. Trotzdem blieb Odermatt in der Bildkomposition beim less is more. Sein Sohn Urs Odermatt entdeckte in den 1990ern die Abzüge, bald wurde der Ordnungshüter zum Kunststar: Odermatt war auf der 49. Kunstbiennale Venedig zu sehen, wurde im Art Institute of Chicago ausgestellt und zierte ein Platten­cover der US-Postrockband Tortoise.

Er starb hochbetagt 2021, am Donnerstag würde Arnold Odermatt seinen 100. Geburtstag feiern.

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