Kultur

Politiker bei Olympia: Zu Besuch in der Heldenwerkstatt | ABC-Z

In der Serie “Politisch motiviert” ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 30/2024.

Insgesamt über eine halbe Million Euro, das ergab jüngst eine Anfrage der Linkengruppe im Bundestag, kosteten die Flugreisen zu EM-Spielen von Mitgliedern der Bundesregierung. Und man darf annehmen: Auch bei den Olympischen Sommerspielen in Paris werden sich Nancy Faeser, Annalena Baerbock oder Olaf Scholz wieder auf den Zuschauertribünen blicken lassen. Der Bundeskanzler hat sich immerhin schon für die Eröffnungsfeier am Freitag angekündigt und tut es damit jenen rund einhundert anderen Regierungs- und Staatschefs gleich, die aus aller Welt an der Seine erwartet werden.

Es hat naheliegende Gründe, dass Politiker solch sportliche Auswärtsfahrten unternehmen, selbst auf die Gefahr hin, dass ihnen empörte Steuerzahler die immensen Reisekosten vorhalten. Man bekommt schöne Social-Media-Bilder, kann sich bürgernah als Freund der Massenkultur inszenieren und im besten Fall sogar etwas vom patriotischen Siegesglanz abbekommen. Doch gibt es womöglich noch einen weiteren Grund, warum Amtsträger von sportlichen Großveranstaltungen so fasziniert scheinen. Bei Fußballeuropameisterschaften oder Olympischen Spielen wird nämlich das produziert, was auch fast jeder erfolgreiche Politiker braucht: Mythen.

Das zeigt sind besonders deutlich bei den Olympischen Spielen. So ist es zunächst kein Zufall, dass Pierre de Coubertin, der Initiator der modernen Olympischen Spiele, explizit von Richard Wagners Bayreuther Festspielen inspiriert war. Denn auf dem Grünen Hügel, wo passenderweise gerade parallel gespielt wird, geschieht im Grunde das Gleiche wie im Sportstadion: Unter den Augen politischer Prominenz werden Heldengeschichten erzählt.

Die beste Biertrinkerin Australiens

Wobei die olympischen Heldengeschichten oft nicht allein vom sportlichen Erfolg leben. Es stimmt zwar: Medaillenrekordhalter wie Michael Phelps, Usain Bolt oder Simone Biles sind weltweit bekannte Stars. Für die mythische Aura des massenmedialen Gesamtkunstwerks sind hingegen jene olympischen Athletinnen und Athleten fast noch wichtiger, deren Triumph eine besonders dramatische Geschichte erzählt. In seinem 2016 erschienenen Buch Olympische Spiele – Eine Kulturgeschichte hat der österreichische Publizist Klaus Zeyringer eine Reihe von ihnen gesammelt.

Da wäre etwa die australische Schwimmerin Dawn Fraser, die 1954, 1960 und 1964 Gold über 100 Meter Freistil gewann und bis heute zu den populärsten Athletinnen ihrer Heimat zählt. Aber nicht nur wegen der Erfolge, sondern weil ihre Geschichte so unwahrscheinlich war. Schließlich kam sie aus ärmlichen Verhältnissen, hatte Asthma, war starke Raucherin und nannte sich selbst “die beste Biertrinkerin Australiens”. Über einen ähnlichen Heldenstatus verfügte der tschechoslowakische Langläufer Emil Zátopek, der unter anderem 1952 Gold im Marathon holte. Nachdem er sich 1968 im Prager Frühling engagiert hatte, wurde er von den kommunistischen Machthabern diffamiert, musste daraufhin in einer Uranmine und als Müllmann arbeiten. Auch weil er dies so stoisch bis zu seiner späteren Rehabilitierung ertrug, avancierte er zum tschechischen Heros, nach dem mittlerweile sowohl ein Schnellzug als auch ein Asteroid benannt ist. Oder schließlich die Geschichte von Matthias Steiner: Der deutsche Gewichtheber holte 2008 überraschend die Goldmedaille und sorgte für eine besonders berührende Siegesfeier, weil er bei dieser das Foto seiner erst ein Jahr zuvor verstorbenen Frau hochhielt.

All diese Geschichten brennen sich deshalb so ins kollektive Gedächtnis ein, weil in ihnen eine sogenannte Heldenreise stattfindet. Diese findet sich weltweit in fast allen Mythen und Sagen, von Asien bis Europa. Der US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell hatte in seinem 1949 erschienenen Buch Der Heros in tausend Gestalten, das später Georg Lucas bei seiner Star-Wars-Reihe inspirieren sollte, sogar die einzelnen Stufen dieser Reise identifiziert, darunter etwa “Der Ruf des Abenteuers”, “Das Überschreiten der ersten Schwelle” und “Der Weg der Prüfungen”. Kurzum: Olympische Heldengeschichten erinnern uns an gleichermaßen uralte wie archetypische Erzählungen, in denen der Protagonist gegen alle Widerstände und Unwahrscheinlichkeiten obsiegt.

Mythologischer Schnupperkurs

Ebendieser mythische Glanz verleiht nicht nur Sportlern eine heroische Aura, sondern auch Politikerinnen und Politiker wissen, dass diese in ihrem Metier zum Erfolg führt. Langfristig kommt nämlich kaum ein erfolgreicher Spitzenpolitiker ohne seinen eigenen Quasimythos aus, der eine Geschichte voller Widerstände und Unwägbarkeiten erzählt. Angela Merkel: die ostdeutsche Physikerin, die zunächst “Kohls Mädchen” wird und dann zur informellen Anführerin der westlichen Welt avanciert. Gerhard Schröder: Aus ärmlichen Verhältnissen kämpft er sich hoch zum Brioni-Kanzler. Willy Brandt: der Exilant, der aus Norwegen in eine immer noch von Altnazis durchsetzte Bundesrepublik zurückkehrt und das Land liberalisiert. Ähnlich mythisch aufgeladene Storys könnte man über Winston Churchill, John F. Kennedy, Golda Meir oder Wladimir Putin erzählen. Und schließlich gehört ja auch zu Donald Trumps Erfolgsrezept, dass er, der einstige Reality-TV-Star, sich zur politischen Heilsfigur stilisiert, die heldenhaft gegen einen vermeintlich “tiefen Staat” ankämpft.

Aus kulturkritischer Warte mag man nun mit guten Gründen monieren, dass derlei quasimythische Erzählungen im politischen Bewusstsein heute eine so große Rolle einnehmen – und dabei oft genug politische Inhalte und Programme an den Rand drängen. Zumal die im sozial-medialen Zeitalter steigende Bedeutung von mythischen Selbsterzählungen auch dazu beiträgt, dass die Politberichterstattung zunehmend so atemlos wird wie der Sportreport.

Doch liegt es eben auch in der Natur der Sache, dass man sich gute Geschichten besser merkt als ausgefeilte 30-Punkte-Programme. Deshalb wird man auch in Zukunft so viele Politikerinnen und Politiker auf den Sporttribünen sehen. Die Fahrt ins Stadion ist für sie nämlich eine Art mythologischer Schnupperkurs, ein Besuch in der Heldenwerkstatt, stets auf der Suche nach den Best-Practice-Beispielen. Zumindest aus dieser Perspektive sind olympische Ausflüge von Amtsträgern tatsächlich Dienstreisen im engeren Sinne. Kein Wunder also, dass das Spesenkonto dafür offenbar gut gefüllt ist.

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