Politikberater aus Bayern erklärt: Warum Deutschland jetzt führen muss | ABC-Z

Der Politologe und gebürtige Bayer Timo Lochocki arbeitete unter anderem beim German Marshall Fund. Er berät internationale Stiftungen und deutsche Entscheider im Umgang mit anti-demokratischen Kräften.
AZ: Herr Lochocki, Sie schreiben in Ihrem Buch „Deutsche Interessen“, Deutschland müsse die führende liberale Demokratie der Welt werden und die Rolle einnehmen, die bis zuletzt die USA innehatten. Wer hätte vor einer solchen Machtposition mehr Angst – die Deutschen oder der Rest der Welt?
TIMO LOCHOCKI: Die Frage stellt sich gar nicht mehr – wir sind Stand jetzt die mächtigste liberale Demokratie der Welt. Die USA sind keine liberale Demokratie mehr. Wir müssen uns grundlegend Sorgen machen, ob die USA die Seiten wechseln. Auch wenn wir darauf setzen, dass die Demokraten dort die nächsten Wahlen gewinnen – wenn man sich den Staatsumbau ansieht, der derzeit stattfindet, ist es eine sehr offene Frage, ob es freie und faire Wahlen noch geben wird und das Katastrophenszenario eintritt, dass die USA den Kreis der Demokratien verlassen.
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Und wer würde das mit Ängsten sehen, dass Deutschland den „Westen“ führt?
Ich glaube, dass die Deutschen davor weitaus mehr Angst haben als die Welt. Die liberale Welt und ganz Europa sehen Deutschland schon jetzt als führende Demokratie. Die Franzosen und Briten nicht sofort, bei kurzem Innehalten aber doch. Ökonomen sagen, was die künftige Regierung gerade plant auszugeben, eine Billion Euro, könnte man gerne verdoppeln. Aber selbst die aktuellen Zahlen sprengen jetzt schon komplett das Potenzial der Franzosen oder Briten, und die Deutschen könnten das Doppelte ausgeben. Die Führungsrolle – rein durch die ökonomischen Voraussetzungen – ist unbestritten. Gerade die Nord- und Mittelosteuropäer befinden sich gerade in einer Bedrohungslage und suchen nach einem Orientierungspunkt. Sie suchen deutsche Führung.

© Geert Vanden Wijngaert/AP/dpa
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“ Das werden nicht die Franzosen sein“
Derzeit gehen Initiativen, wie sich Europa in der neuen Weltordnung behaupten kann, eher von Frankreich und Großbritannien aus…
Die momentane Abwesenheit Deutschlands ist primär der Wahl geschuldet. Das wird so lange dauern, bis sich die neue Regierung gefunden hat. Aber die Frage ist doch vielmehr: Welches Land hat die langfristigen ökonomischen und damit militärischen Potenziale, um die Nato-Ostflanke zu schützen? Und welches Land ist in der Lage, eine Außenpolitik zu betreiben, die im Interesse der hoch bedrohten Staaten in Nord- und Osteuropa liegt? Das werden nicht die Franzosen sein. Man darf nicht vergessen, wie tief die Enttäuschung darüber immer noch ist, dass die westlichen Alliierten den Osteuropäern im Zweiten Weltkriege nicht zu Hilfe kamen.
Was spricht noch gegen Frankreich und Großbritannien als Führungsmächte?
Sie haben keine stabile demokratische politische Mitte mehr. Diese Länder können nicht garantieren, dass sie eine sicherheitspolitische Agenda die nächsten zehn, 15 Jahre auch durchhalten. In Frankreich könnte 2027 Marine Le Pen übernehmen. Dieser Punkt wird in der europäischen Nuklearschutzschirm-Debatte nicht genug betrachtet. Auch daher ist die Konstruktion eines europäischen nuklearen Schutzschirmes unter französischer Führung eine sehr schlechte Idee. Damit kämen wir wohl vom Regen in die Traufe. Aktuell sind wir von Trump erpressbar und so wären wir es dann auf Sicht durch Le Pen. Im Gegensatz dazu ist die politische Stabilität in Deutschland die mit Abstand höchste der europäischen Mittelmächte.

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Dennoch haben AfD und Linke auch hier Gewinne erzielt…
Ich würde die Linke nach der Abspaltung des BSW durchaus noch als zum Pragmatismus fähigen Akteur bezeichnen. Die Stärke der deutschen Mitte ist die Reformfähigkeit und eine belastbare Absprachefähigkeit auf Jahrzehnte. Das ist mit Franzosen und Briten wohl kaum mehr möglich.
Bevölkerung sieht Nationalstolz unverkrampfter
Allein schon so etwas wie Nationalstolz zu empfinden, lässt einen aber schnell in der rechten Ecke stehen. Warum ist dieses Gefühl für Sie völlig in Ordnung?
Man muss da klar unterscheiden zwischen der Bevölkerung und meinungsbildenden Eliten. Das hat man vor einigen Wochen gesehen, als die Union es in Kauf nahm, dass die AfD im Bundestag mit ihr stimmte. Es ging ein Aufschrei durch alle Leitmedien. In Umfragen unter der Bevölkerung ergab sich eine völlig andere Meinung. Und das Verhältnis der Bevölkerung zu Nationalstolz und Patriotismus ist viel unverkrampfter als das vieler Meinungsmacher und Eliten. Es geht dabei nicht um Überheblichkeit gegenüber anderen Staaten, sondern um Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, darin, dass die eigenen Interessen und Ziele richtig und gut sind.
Und dafür hat Deutschland Grund?
Ja, die Reformen, die im demokratischen Deutschland seit 1949 in Angriff genommen wurden, sind in Summe alle fantastisch gelaufen. Darum beneidet uns die Welt. Und die meinungsbildenden Eliten sagen: Das mag stimmen, die letzten 80 Jahre lief es gut, aber davor war es fürchterlich. Aber: Jetzt hat sich die Geschichte umgedreht. Bis 1945 war Deutschland der Aggressor, der gegen stabile Demokratien kämpfte. Jetzt ist Deutschland der Bewahrer der liberalen Demokratien. Zum ersten Mal sind deutsche nationale Interessen deckungsgleich mit denen liberaler Demokratien weltweit. Man kann es plakativ formulieren: Dieses Mal sind wir die Guten.
Noch einmal zurück zum demokratischen Niedergang der USA: Könnte das nicht auch bei uns passieren?
Grundsätzlich ja. Das große Glück ist die Bundestagswahl, die extrem günstig ausgegangen ist. Das war ein Himmelsgeschenk. Die große Nemesis (Rachegöttin, d. Red.) der SPD in Bezug auf Aufrüstung, das BSW, ist raus, und die Nemesis der CDU in Bezug auf die Schuldenbremse, die FDP, auch.
Wir werden eine hoch handlungsfähige Bundesregierung haben, die trotz eines moderaten Wahlergebnisses zu extrem weitreichenden Reformen fähig ist. Zudem ist der Aufstieg der AfD bei uns nur zur Hälfte auf Fundamentalopposition zurückzuführen. Die andere Hälfte geht auf berechtigte Kritik an der gescheiterten Migrationspolitik von Ampel und Union zurück. Wenn die neue Regierung die Probleme mit der Migration in den Griff bekommt, kann sich der Zuspruch für die AfD bis zur nächsten Bundestagswahl halbieren.
„Die entscheidende Frage für ganz Europa“
Und wenn nicht?
Die entscheidende Frage für ganz Europa ist die Migrationsfrage in Deutschland. Die ungelöste Migrationsfrage ist nicht die Mutter aller Probleme, wurde aber von Politikern in Deutschland zur Mutter aller parteipolitischen Probleme gemacht. Sie ist nun die Sollbruchstelle, an der die Bürger sagen: Seid ihr kompromissfähig, seid ihr handlungsfähig? Könnt ihr Sicherheit wiederherstellen? Wenn diese Frage gelöst ist, hat die deutsche Regierung die Energie und vor allem das Vertrauen der Bevölkerung, sich um alle anderen Fragen zu kümmern.
Einer Ihrer Vorschläge, um Deutschland zur führenden Demokratie zu machen, ist: mehr investieren. Sind die Sondierer in Berlin gerade auf dem richtigen Weg?
Ja. Es ist gut, dass die künftige Regierung nicht nur bereit ist, enorme Summen in die Hand zu nehmen, sondern auch die Einsicht in die Notwendigkeit hat, die komplette Außen- und Sicherheitspolitik des Landes einer Revision zu unterziehen – und die Refinanzierung des Staates neu zu bewerten. Die Union wird einige fiskalpolitische Falken enttäuschen, aber sie schafft es, einen riesigen Gordischen Knoten zu durchschlagen.

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Sie machen auch Vorschläge, was sich gesellschaftlich ändern sollte. Gerade kocht die Debatte um eine Reaktivierung der Wehrpflicht hoch. Aber kaum jemand in Deutschland will das Land mit der Waffe verteidigen. Sie fordern sogar mehrjährige Gesellschaftsjahre verschiedener Art – für alle. Warum glauben Sie, dass die Deutschen da mitziehen könnten?
Es spielt kaum eine Rolle, was die Deutschen dazu im Moment für eine Meinung haben. In liberalen Demokratien gibt es wenig Fundamentalopposition. Man bildet sich eine Meinung, nachdem es eine offene Debatte gab. Wenn die Bundesregierung sich gut erklärt, können sich Mehrheiten verschieben.
Laut Experten müsste sich die Bundeswehr in ihrer Sollstärke mindestens verdoppeln, damit das Land verteidigungsfähig ist. Die Bundeswehr bräuchte 200.000 Menschen mehr – das ist ohne Wiedereinführung der Wehrpflicht kaum zu machen. Aber auch Polizei, THW, Pflege, überall wird händeringend junges Personal gesucht. Zugleich ist das Land aber geprägt von einem digitalen Gegeneinander. Man bräuchte jedoch ein analoges Miteinander.
Wir benötigen Begegnungsräume für Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten. Wenn es neben einer Wehrpflicht auch Gesellschaftsjahre für alle, aus allen Altersgruppen gibt, die sich entsprechend ihren Fähigkeiten einbringen, würde das das Land voranbringen. Es würde die Demokratie wehrhafter machen und die Menschen endlich wieder zueinander bringen.

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Ihrer Vorstellung nach sollte Deutschland wachsen, auf 100 Millionen Einwohner – da frage ich mich doch gleich, wo sollen die alle wohnen?
Die Menschen sind oft wütend, weil sie den Eindruck haben, die staatlichen Strukturen helfen ihnen nicht. Die Frage ist: Unternimmt der Staat alles, um Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Bürger sich so entfalten können, wie sie möchten? Und die Deutschen möchten seit Jahrzehnten im Schnitt gern 2,2 Kinder, haben aber nur 1,3. Der deutsche Wohlfahrtsstaat ermöglicht seinen Bürgern nicht, was sie möchten. Zugleich haben wir einen Arbeitsmarkt, der von Überalterung bedroht und nur durch massive Zuwanderung zu halten ist.
Dagegen spricht nichts, aber die Kosten, um durch Zuwanderung aufzuholen, was mit einer höheren Geburtenrate möglich wäre, sind sehr viel größer als die realen Kosten für mehr Menschen, die schon hier geboren werden. Eine gesteigerte Geburtenrate hätte fast nur Vorteile: Der Staat erlaubt Bürgern, das Leben zu führen, das sie wollen, die Integrations- und Sozialkosten wären viel geringer und man hätte ein größeres Reservoir an jungen, gut ausgebildeten Bundesbürgern, die natürlich auch die Innovations- und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands stärken können.

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Psychische Gesundheit ist gerade ein großes Thema – auch im Zusammenhang mit Anschlägen. Oft fehlt es an Therapieplätzen. Wie wichtig ist psychische Gesundheit für den Zustand einer Demokratie als Ganzes?
Was die politischen Extreme anfeuert, ist Wut und Ohnmacht. Unser System ist nicht darauf ausgelegt, dass es uns gut geht, sondern auf Produktivität. Dass es immer mehr psychische Erkrankungen gibt, ist ein Anzeichen, dass die Anforderungen des Kapitalismus und der geopolitischen Lage menschenfeindlich sind, dass das alles zu viel Druck auf den Einzelnen ausübt. Der Staat muss also die Rahmenbedingungen ändern und zugleich muss mentale Vorsorge normalisiert werden. Wir brauchen niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten.
Ein Großteil der psychischen Leiden könnte durch Früherkennung behoben werden. Dramatische Fälle entstehen vor allem dadurch, dass man über Jahre hinweg nichts unternommen hat. Wir müssten eine viel größere und vor allem entspanntere Debatte über Mental Health haben. Alle sechs Monate zum „Health Check-Up“ zu gehen, muss so normal werden wie der Gang zur Apotheke.
„Deswegen müssen wir alle wütend, traurig und empört sein“
Auch vermeintlich kleine Dinge hierzulande wie Druck, der auf Eltern lastet, erfreue Russland oder China, schreiben Sie. Warum?
Diese Regime tun alles dafür, dass es uns allen sehr viel schlechter geht – weil sie Angst haben, dass ihre Bevölkerung sie stürzt. Das tut diese aber nur, wenn sie glaubt, es gibt in Reichweite eine Alternative. Die Regime werden also bedroht durch das gute Leben im freien Westen.
Damit dieses gute Leben als Alternative nicht mehr da ist, müssen wir alle wütend, traurig und empört sein und aufgrund dessen extremistische Parteien wählen – so die Absicht der Regime in China und Russland. Dann würden die Parteien der Mitte immer kleiner und würden sich polarisieren über Themen wie das Gendern. Danach wäre die Reformfähigkeit, die auf breiten Mehrheiten der Mitte beruht, nicht mehr vorhanden – und die braucht man, um diesen Regimen die Stirn zu bieten, außenpolitisch und ökonomisch.

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In der gegenwärtigen Weltlage könnte man den Anspruch, Nummer Eins zu werden, eher als Notwendigkeit denn als Wunsch auslegen. Wäre das ein Problem?
Ganz im Gegenteil. Es geht nicht darum, Nummer Eins zu werden, damit wir der Welt unseren Stempel aufdrücken können, oder, Gott bewahre, weil wir die besseren Gene hätten. Aber wir können in der aktuellen Gemengelage nur dann für die Bundesbürger ein gutes Leben ermöglichen, wenn die Bundesrepublik Deutschland die liberalen Demokratien der Welt anführt – weil es sonst keiner kann, weil sonst keine Ressourcen vorhanden sind.
Es ist das Interesse jedes deutschen Rentners, jedes Studenten, jeder Alleinerziehenden, jedes Dax-Vorstandes, dass Deutschland jetzt die Führungsnation des freien Westens wird. Nur so können die Eigeninteressen aller Bundesbürger erfüllt werden. Wir können gestärkt herausgehen aus diesem Chaos und so alle ein deutlich besseres Leben haben.
Timo Lochocki: Deutsche Interessen. Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden – und damit den liberalen Westen retten. Herder, 22 Euro, 272 Seiten. Am 21. März, 19 Uhr, spricht Lochocki im Café Luitpold, Brienner Str. 11.