Polio-Erreger im Abwasser: Was das für Deutschland bedeutet – Gesundheit |ABC-Z
Kann man sich in Deutschland wieder mit Polio anstecken?
Der Polio-Erreger ist hochansteckend und wird über Schmierinfektionen, verunreinigtes Wasser oder Lebensmittel übertragen. Aus den Abwassernachweisen könne aber nicht sicher geschlossen werden, ob der Erreger hierzulande zirkuliere oder ausschließlich von Menschen ausgeschieden werde, die sich außerhalb Deutschlands infiziert haben, heißt es vom RKI. Verdachtsfälle oder bestätigte Erkrankungen an Kinderlähmung wurden bisher keine an das Bundesinstitut übermittelt. Laut RKI ist es jedoch denkbar, dass Menschen im Land die Viren weitergeben und einzelne – sofern ungeimpft – auch an einer Poliomyelitis erkranken, die auch Kinderlähmung genannt wird. „Einen größeren Polio-Ausbruch erwarte ich in Deutschland nicht, aber auch jeder einzelne Fall wäre einer zu viel“, sagt RKI-Polio-Expertin Sabine Diedrich.
Wie schlimm ist Polio?
Erste Symptome einer Erkrankung sind Fieber, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen, Nackensteifigkeit und Gliederschmerzen. Laut RKI führt bei fehlendem Immunschutz im Durchschnitt eine von 200 Infektionen zu irreversiblen Lähmungen, meist in den Beinen. Von den Betroffenen sterben fünf bis zehn Prozent, weil ihre Atemmuskulatur gelähmt wird. Eine Heilung von Polio ist nach wie vor nicht möglich.
Die häufig verwendete Bezeichnung Kinderlähmung sei dabei irreführend, erklärt der Virologe Thomas Mertens: Menschen jeden Alters ohne Immunschutz können erkranken. Der Name entstand, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass die Infektion meist schon im Kindesalter erfolgte. Lähmungen seien bei sehr kleinen Kindern viel seltener als bei älteren Kindern und Erwachsenen.
Muss ich etwas tun?
Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sei äußerst gering und die Konsequenz einer Infektion vernachlässigbar, zumindest wenn man geimpft ist, erklärt der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité. Spezielle Vorsichtsmaßnahmen seien daher nicht notwendig. Allerdings solle man seinen Impfschutz prüfen oder vom Hausarzt prüfen lassen. Die Impfquoten in Deutschland seien insgesamt nicht schlecht, regional aber recht unterschiedlich, sagt RKI-Expertin Diedrich. Außerdem würden Kinder oft zu spät geimpft. „Daher ist es jetzt besonders wichtig, einen Blick in den Impfausweis zu werfen und fehlende Impfungen nachzuholen.“
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Nach dem Fund von Erregern im Abwasser rät die Stadt zur Vervollständigung oder Auffrischung der Impfung gegen Kinderlähmung. In einer weiteren Untersuchung seien aber keine Polioviren mehr nachgewiesen worden.
Wie wird in Deutschland geimpft?
Die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) sieht eine Grundimmunisierung mit drei Impfstoffdosen im Alter von zwei, vier und elf Monaten vor. Eine einmalige Auffrischimpfung ist im Alter von neun bis 16 Jahren vorgesehen. Für bestimmte Risikogebiete im Ausland kann zudem eine Auffrischung nach zehn Jahren sinnvoll sein. Die Impfquote liegt dem RKI zufolge im bundesweiten Mittel bei etwa 90 Prozent. Besonders niedrig ist sie in Baden-Württemberg: Im Jahr 2019 geborene Zweijährige waren dort nach RKI-Daten nur zu knapp 72 Prozent geimpft. Generell würden Kinder häufig zu spät geimpft, warnt Mertens, ehemaliger Direktor des Instituts für Virologie der Universität Ulm und früherer Stiko-Chef. Dadurch werde die Zahl ungeschützter kleiner Kinder vergrößert.
Was für ein Virus wurde nun nachgewiesen?
Bei den gefundenen Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um eine auf Schluckimpfungen zurückgehende Variante. Diese Art von Impfung wird in Deutschland nicht mehr vorgenommen.
Nach einer Schluckimpfung vermehrt sich das Poliovirus in den Darmzellen, bevor es bis zu sechs Wochen lang über den Stuhlgang in großen Mengen ausgeschieden wird; dabei können Rückmutationen zu krankmachenden Viren stattfinden, erklärt der Virologe Thomas Mertens. Sehr selten der Impfling selbst, etwas häufiger infizierte Kontaktpersonen könnten dann an sogenannter Impf-Polio erkranken. Abgeschwächte Polioviren mutierten recht schnell wieder zum virulenten Typ, erklärt Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren. „Viren, die einige Tage nach Verabreichung der Schluckimpfung ausgeschieden werden, können bei engen Kontaktpersonen bereits Lähmungen verursachen.“
Die nun in Deutschland wie auch in Polen und Spanien nachgewiesene, cVDPV2 genannte Variante ist Experten zufolge wahrscheinlich nicht harmloser als der Wildtyp. Sie stammt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ursprünglich aus Nigeria, wo sie seit etwa 2020 kursiert. Seither hat sie sich auf andere Regionen vorwiegend in Afrika ausgebreitet, wie Diedrich sagt. Nun wurde sie auch nach Europa eingeschleppt. Polioviren vermehren sich nicht eigenständig in Abwasser. An den Fundorten müsse es Menschen geben, die cVDPV2 ausscheiden und an andere Personen weitergeben könnten, erklärt Drosten.
Was haben Impfungen gebracht?
Großangelegte Impfprogramme haben die Kinderlähmung in den meisten Gebieten der Welt ausgerottet. Weltweit können der WHO zufolge geschätzt rund 20 Millionen Menschen dank der Impfung gehen, die andernfalls durch Polio gelähmt gewesen wären – und mehr als 1,5 Millionen Menschen leben noch, die andernfalls gestorben wären. In Deutschland können sich nur noch ältere Menschen daran erinnern, wie furchtbar die Viruskrankheit auch hierzulande einst zugeschlagen hat, mit tausenden Erkrankten und hunderten Todesfällen jährlich. Kinderlähmung sei „eine der schrecklichsten Erkrankungen der Menschheit“, sagt Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin. Nach Angaben der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC war Polio eine der Hauptursachen für Todesfälle, akute Lähmungen und lebenslange Behinderungen, bis die Impfungen begannen.
Die letzte in Deutschland erworbene Poliomyelitis-Erkrankung durch Wildviren wurde 1990 erfasst. In Zusammenhang mit dem zunächst verwendeten Lebendimpfstoff (OPV, Schluckimpfstoff) kam es dem RKI zufolge in Deutschland noch zu ein bis zwei Impf-Polio-Fällen jährlich. Seit 1998 wird hierzulande ausschließlich inaktivierter Polioimpfstoff (IPV) verwendet, bei dem solche Erkrankungen nicht möglich sind.
Warum wird nicht überall inaktivierter Impfstoff verwendet?
Das liegt vor allem an einer Eigenheit der inaktivierten Polio-Impfstoffe: Sie verhindern zwar Erkrankungen sehr gut, nicht aber eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. In der Folge kann das Virus unbemerkt weite Kreise ziehen. Vor allem in Afrika und Asien wird darum noch verbreitet auf die Schluckimpfung gesetzt, die auch vor Ansteckung und damit vor einer großflächigen Weitergabe schützt. Sie ist zudem preiswerter als der inaktivierte Impfstoff und schützt nicht allein die geimpfte Person wie beim IPV-Impfstoff, sondern kann auf weitere Personen im Umfeld übertragen werden. Dadurch werden diese gewissermaßen mitgeimpft. Gerade in entlegenen Gebieten könnten Kinder nicht mehrmals zur Impfung gebracht werden und es würden auch nie alle Kinder geimpft, erklärt Drosten. Wenn man in einem Dorf einen Teil der Kinder mit der Schluckimpfung versorge, gäben sie das Virus beim Spielen an die ungeimpften Kinder weiter. Diese würden so ebenfalls geschützt, auch wenn sie den Besuch des Impfarztes im Dorf verpassten.
Das geringe Risiko eines Impf-Polio-Falls wird dabei zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung in Kauf genommen. Künftig könnte es noch niedriger ausfallen: In der Fachzeitschrift „Vaccines“ vorgestellte Daten zu einem neuen oralen Polio-Impfstoff zeigen eine verringerte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von cVDPV2-Varianten.
Welches Risiko besteht nun in Deutschland?
Üblicherweise kursieren auf die Schluckimpfung zurückgehende Viren nur in Regionen, in denen diese verwendet wird. Im Jahr 2022 wurden solche Erreger aber zum Beispiel auch im Bundesstaat New York und in London nachgewiesen. Der Bundesstaat New York rief den Katastrophenfall aus. Ein junger Mann im an New York grenzenden Bezirk Rockland erlitt Lähmungen. Dass es eine Person mit den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen gibt, kann bedeuten, dass in der REgion hunderte Infizierte ohne Symptome leben, wenn man bedenkt, dass nur einer auf 200 Infizierte erkrankt. In London wurden keine Erkrankungen bekannt.
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Allerdings kann man ein Virus nur finden, wenn man es sucht. Experten hielten es schon damals für wahrscheinlich, dass auf Schluckimpfstoffe zurückgehende Polioviren auch in anderen westlichen Ländern kursieren. Im Zuge der Corona-Pandemie wurden dann vermehrt Abwassertestungen eingeführt. „Bisher ist der Nachweis solcher Infektionen selten gewesen, durch die zunehmende Abwassertestung fallen diese heute aber zunehmend auf“, erklärt Christian Drosten.
Werde das Virus über längere Zeit immer wieder nachgewiesen, könne das nicht auf einen einzelnen Infizierten zurückgehen, da dessen Ausscheidung nach etwa sechs Wochen endet, sagt Mertens. Entweder werde der Erreger dann immer wieder aufs Neue eingetragen oder, und das sei wahrscheinlicher, er zirkuliere in der Bevölkerung des Einzugsgebiets der jeweiligen Kläranlage.
Wie müssen die Behörden reagieren?
„Wichtig ist in der gegenwärtigen Situation, eine lokale Zirkulation im Land zu verhindern“, sagt Diedrich. Ein erster Schritt ist, über Kampagnen und Information Impflücken in der Bevölkerung zu schließen. Kommt es dennoch zu Erkrankungen oder gar einem größeren Ausbruch, können Gesundheitsbehörden den zeitweisen Einsatz von Schluckimpfungen in Erwägung ziehen. Israel nutzt seit Jahren wieder Lebendimpfstoffe, bei Ungeimpften wurden seither mehrere Fälle von Impf-Polio erfasst. Auch in der Ukraine kamen nach RKI-Angaben zeitweise ergänzend Schluckimpfungen zum Einsatz.
„Man weiß aber auch, dass man mit inaktivierten Impfstoffen ein solches Geschehen ebenfalls kontrollieren kann“, sagt Ole Wichmann, Leiter des Fachgebiets Impfprävention beim RKI. „In der konkreten Situation, wie sie derzeit in Deutschland besteht, wird es das vorrangige Ziel sein, bestehende Impflücken mit Polio-Totimpfstoffen zu schließen. Wir sehen derzeit keinen Anlass, wieder zur Schluckimpfung überzugehen.“
Lässt sich Polio ausrotten?
Der einzige Wirt, in dem sich Polioviren vermehren können, ist der Mensch, betont Mertens. Das bedeutet, dass sich der Erreger nicht bei Tieren „verstecken“ könne, brächte man ihn in der Weltbevölkerung gänzlich zum Verschwinden. Das mag nach einem verrückten Plan klingen, doch durch Impfkampagnen ist so etwas schon einmal gelungen: bei den Pockenviren des Menschen. Sie gelten seit 1980 als ausgerottet.
Auch bei Polio war die Menschheit schon nahe dran: Die Zahl der Fälle von Erkrankungen durch Polio-Wildviren sank nach WHO-Daten von 1988 bis 2013 um 99 Prozent: von 350 000 auf etwa 400 im Jahr 2013. Von den einst drei Stämmen des Polio-Wildvirus wurden Typ 2 im Jahr 1999 und Typ 3 im Jahr 2020 ausgerottet. Das Polio-Wildvirus vom Typ 1 zirkuliert fast nur noch in Pakistan und Afghanistan. „Gelingt es nicht, Polio in diesen letzten verbliebenen Hochburgen auszurotten, könnte die Krankheit lokal wieder aufflammen“, warnt die WHO.
Es gehe nur noch um die letzten 0,1 Prozent der Polio-Fälle, heißt es bei der Global Polio Eradication Initiative. Doch die Impfquoten erreichten bisher nicht in allen Regionen die für eine Ausrottung mindestens nötigen 95 Prozent. Teils sanken sie sogar wieder. Im Jahr 2014 erklärte die WHO eine Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite bei der Kinderlähmung, die bis heute gilt. Ein hinzugekommenes Problem ist, dass Routine-Impfungen wie die gegen Polio in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen wurden, ebenso in Kriegs- und Krisengebieten. Dadurch stieg das Risiko, dass Polio sich wieder ausbreitet.